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Die gut informirte Berliner Korrespondenz der „Hamburger Nachrichten“
meldete: „Fürst Bismarck erklärte schon vor der Abstimmung im Bundesrat
Jedem, der es hören wollte, daß er sich als deutscher Reichskanzler in der
Frage des Sitzes des Reichsgerichts neutral halte und keinerlei Druck auf die
kleinen Regierungen ausüben werde. Es war ihm bekannt, daß die Souveräne
der Mittelstaaten sich brieflich verabredet hatten und daß auch die thüringischen
Vettern sowie die hohen Herren von Mecklenburg und Oldenburg in die
Verabredung hineingezogen waren. Gleichwohl hat er es verschmäht, irgend
einen Schritt zur Vereitelung dieser Wünsche zu thun, und die Vorschläge, die
in dieser Beziehung an ihn herantraten, abgelehnt. Es ist also thöricht, von
einer Niederlage bei einer Angelegenheit zu sprechen, bei der der Kanzler es
nicht der Mühe wert hielt, einen Kampf überhaupt aufzunehmen.“!)
Ueber die durch den Bundesratsbeschluß geschaffene staatsrechtliche Lage
bemerkte die „Nordd. Allg. Ztg.“ Nr. 56 v. 8. 3. 77 im Anschluß an die
Mitteilung von der inzwischen erfolgten Einbringung der natürlich mit neuen
Motiven 2) versehenen Vorlage in den Reichstag: „Der Reichskanzler hat den
Akt der Einbringung des Entwurfs in den Reichstag nicht als Vorsitzender des
Bundesrats, sondern als Vertreter des Reichspräsidiums zu vollziehen gehabt,
denn diesem ist nach der Verfassung die Einbringung der Vorlagen im Reichstag
übertragen. Die Annahme, daß dem Kaiser noch ein Veto gegen den Beschluß
des Bundesrats zugestanden habe, wie in der „National-Zeitung ausgeführt
wird, 3) trifft augenscheinlich nicht zu. Die Reichsverfassung unterscheidet sich
gerade in dieser Beziehung von den Verfassungen konstitutioneller Einheits-
staaten.
Während zum Beispiel die preußische Verfassung sagt: die gesetzgebende
Gewalt wird gemeinschaftlich durch den König und den Landtag geübt, heißt
es in Art. 5 der Reichsverfassung: Die Reichsgesetzgebung wird ausgeübt durch
vollmächtigten und besonders auch von dem Staatssekretär des Reichs-Justizamts Erwägungen
allgemeiner politischer Art unter Betonung des nationalen Interesses hervorgehoben wurden.
Nur das muß ganz bestimmt bestritten werden, daß die Angelegenheit durch Preußen
irgendwie vom Gesichtspunkte der preußischen Hegemonie oder des preußischen Uebergewichts
behandelt worden sei, und daß in dieser Beziehung, wie die Angelegenheit auch schließlich
erledigt wird, von einer Niederlage Preußens die Rede sein könne.“
1) Vgl. auch oben S. 262 f.
2) Die der Vorlage beigegebene kurze „Begründung“ enthält darüber, daß Leipzig
zum Sitz des Reichsgerichts vorgeschlagen, lediglich folgendes: „Für diesen Vorschlag der
verbündeten Regierungen ist die Erwägung ausschlaggebend gewesen, daß das oberste Reichs-
gericht, welches durch das Gesetz vom 12. Juni 1869 (Bundes-Gesetzblatt S. 201) für
Handelssachen geschaffen wurde, und dessen Zuständigkeit im Laufe der Zeit bereits durch
spätere Gesetze mehrfach erweitert worden ist, dort seinen Sitz hat und überwiegende Gründe,
hierin eine Aenderung eintreten zu lassen, sich nicht ergeben haben.“
3) Vgl. den Artikel der „Nat.-Ztg.“ Nr. 109 v. 6. 3. 77: Der Bundesrat und der
verantwortliche Reichskanzler.
Poschinger, Fürst Bismarck und der Bundesrat. III. 20