Full text: Fürst Bismarck und der Bundesrat. Dritter Band. Der Bundesrat des Deutschen Reichs (1873-1878). (3)

— 351 — 
Greisenalter die herrlichsten Schätze ihres Innern der Welt geoffenbart. Humboldt 
schrieb in demselben Alter seinen Kosmos, Goethe seinen Divan, Sophokles die 
Antigone. An dasselbe Alter streifte Haydn, als er seine „Jahreszeiten“ kom- 
ponirte, und Tizian, als er seine Meisterwerke schuf. Bejahrte Staatsmänner zeichnen 
gerade unsere Zeit aus, was neulich ein Wiener Blatt hervorhob. Fast alle 
jene Männer, deren Reden und Thaten die Geschicke der jetzigen Generation 
am eingreifendsten bestimmt haben, sind über das mittlere Lebensalter nicht 
unbeträchtlich hinaus: so Bismarck, Gortschakow, Beaconsfield, ebenso Moltke 
und Mac Mahon. Der Mann, der am meisten unter allen modernen Franzosen 
auf der Weltbühne eine Rolle spielte, war der greise Thiers. Pio Nono hat 
ein ungewöhnlich hohes Alter erreicht. Der Deutsche Kaiser, Mr. Gladstone, 
Herr Deprelis, der zwei Jahre die Geschäfte Italiens geleitet hat, sind alle 
längst mit dem Silberhaare des hohen Alters geschmückt. Man merkt übrigens, 
fügt das Wiener Blatt hinzu, dem Gange der Ereignisse diesen Umstand nicht 
an; zu keiner Zeit hat sich die Weltgeschichte in schnellerem oder in gleich 
schnellem Tempo bewegt. Es ist, als ob das Alter jung geworden wäre; ist 
die Jugend vielleicht auch alt geworden? Sprechen wir doch nicht von dem 
alternden Bismarck in einer Zeit, wo die ganze Welt von alten Leuten regiert wird, 
wie das Journal des Débats“ es thut, dessen Artikel wir übrigens durchweg 
unterschreiben, wenn es Deutschland, weil es die Macht hat, auch die Pflicht 
zuschreibt, an der Spitze Europas seine Macht zur Dämmung russischen Ueber- 
muts und russischer Vergrößerungssucht geltend zu machen. Indem Fürst 
Bismarck diese Pflicht nicht anerkennt, will er eben etwas anderes als Europa, 
und er will das nicht aus Entschuldigung verdienender Altersschwäche, sondern 
im Vollgefühl seiner männlichen Kraft. Es ist ein oft citirter Ausspruch 
Heinrichs IV. von Frankreich: „Wäre ich Herr über Deutschland, so sollte in 
Europa ohne meinen Willen kein Kanonenschuß fallen!“ Das war bielleicht 
früher zu viel gesagt; seit 1870 hat es aber damit ohne Zweifel seine Richtigkeit. 
Da nun der Kanonenschüsse mehr als zu viel im Jahre 1877 gefallen sind, 
so muß man schließen, daß sie mit Deutschlands Bewilligung gelöst wurden. 
Dagegen richten alle Friedensschalmeien nichts aus, die jetzt durch ganz Europa 
in den verschiedensten Tonarten erschallen, und dafür die Erklärung in der 
abnehmenden Geisteskraft des deutschen Staatsmannes zu suchen, dünkt uns so 
einseitig, als wenn man den russischen jugendlichen Uebermut auf Conto der 
achtzig Jahre des Fürsten Gortschakow setzen wollte.“ 
Die letzten zwanzig Jahre haben diesen Ausführungen recht gegeben. Es 
gereicht nicht immer zum Vorteil der Welt, wenn die Greise von der Bühne 
abtreten. Die Jugend kommt immer noch früh genug ans Ruder. 
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.