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den Vertrauensmann des Kanzlers in Hobrechts Arbeitszimmer. Hier fand
derselbe auf dem Sofatisch das letzte Heft der „Preußischen Jahrbücher“ auf-
geschlagen, und zwar bei einem Treitschkeschen Essay über die Entstehung des
Zollvereins. Tiedemann las die kurze, aber lebendige Schilderung der ersten
Wirksamkeit des Finanzministers v. Motz. Nach Verlauf einer kleinen halben
Stunde erschien Hobrecht in Frack und weißer Binde, den Hut im Nacken, im
leicht geröteten Gesicht einen ungewöhnlich lustigen Ausdruck. Haltung und
Sprache ließen leicht erkennen, daß er aus einer sehr fröhlichen Gesellschaft kam.
Hobrecht war natürlich höchst erstaunt über die Anwesenheit Tiedemanns zu so
später Nachtstunde, und dessen Erstaunen wich nicht, als der Unterhändler des
Kanzlers ihm möglichst unbefangen sagte, er sei gekommen, um bei ihm noch
eine Zigarre zu rauchen und eine Flasche Selterswasser zu trinken. Beides
wurde herbeigeschafft, Hobrecht entledigte sich seines Gesellschaftsanzugs und
setzte sich dann behaglich und neugierig Tiedemann gegenüber, mehr und mehr
zu der Ueberzeugung kommend, daß derselbe ihm noch etwas Besonderes mitzu-
teilen habe.
Als Hobrecht endlich mit einer direkten Frage herausrückte, antwortete
Tiedemann: „Ja, ich wollte Sie auch beiläufig fragen, ob Sie nicht Lust
haben, Finanzminister zu werden."“
Hobrecht sah Tiedemann starr an. Er hielt das Ganze anfänglich für
einen Scherz und wußte offenbar nicht, wie er ihn aufnehmen sollte. Als
der Rat des Kanzlers indessen seine Frage kaltblütig wiederholte und dabei
hinzufügte, der Kanzler habe ihn ausdrücklich beauftragt, noch in dieser Nacht
mit ihm zu verhandeln, sprang er erregt auf, lief im Zimmer umher und
rief hoch aufatmend: „Diese Sache könnte einen ja mit einemmal nüchtern
machen.“
Tiedemann sagte, indem er auf die „Preußischen Jahrbücher“ hinwies,
daß er zu seiner Freude ersehe, wie er heute noch die Gesichtspunkte der
preußischen Finanzpolitik studirt habe; er müsse dies als ein gutes Omen für
den Erfolg seiner Mission ansehen.
Nach einer Weile fragte Hobrecht Tiedemann, wann er denselben am
kommenden Vormittag (22.) sprechen könne. Tiedemann antwortete, daß er
bis 12 Uhr zu Hause sein werde.
„Nun,“ erwiderte Hobrecht, „ich werde mir die Sache beschlafen. Wenn
ich aber morgen im Kater noch so denke wie heute in der Besoffenheit, so
sage ich Iaa“. Also auf Wiedersehen morgen!“
Als Tiedemann zum Fürsten Bismarck zurückkehrte, lag dieser bereits im
Bett. Er rief seinem Rat entgegen: „Nun, wie steht's? Haben wir einen
neuen Minister?"“
Tiedemann antwortete, Hobrecht habe erklärt, wenn er morgen im Kater
so dächte wie heute nacht in der Besoffenheit, so wolle er die Finanzen