— 390 —
vollzogen wurde, brachte eine Berliner lithographirte Korrespondenz nachstehende
Notiz:
„Die Gerüchte, daß die Anwesenheit des deutschen Botschafters Grafen
Stolberg in Berlin mit der gegenwärtigen Ministerkrisis im Zusammenhang
steht, bestätigen sich. Graf Stolberg soll zum Staatsminister ohne Portefeuille
und zum Vizepräsidenten des preußischen Staatsministeriums an Stelle des
ausscheidenden Finanzministers, und auf Grund des neuen Stellvertretungs-
gesetzes in der Folge zum Vizekanzler des Deutschen Reichs ernannt werden.
Die Verhandlungen des Reichskanzlers mit dem Grafen Stolberg, welche zu
diesem Zwecke geführt worden, haben, wie wir von zuverlässiger Seite hören,
zu einem befriedigenden Abschluß geführt. — Gerüchtweise verlautet, daß Graf
Stolberg gleichzeitig eine auf den Kulturkampf bezügliche Mission von Wien
aus übernommen haben soll. Es seien ihm von Wien seitens eines hohen
katholischen Geistlichen Eröffnungen über die Eventualität einer Aussöhnung
der Kurie mit den in Preußen durch die neue kirchenpolitische Gesetzgebung
geschaffenen Verhältnissen gemacht worden, die Graf Stolherg für so beachtens-
wert gehalten habe, daß er durch eine geeignete Anfrage bei den hiesigen maß-
gebenden Persönlichkeiten über deren Stellung zu dieser Eventualität sich
informire."
Die „National-Zeitung“ meinte, Stolbergs Stellung würde ähnlich der
des Fürsten von Hohenzollern in dem Ministerium der liberalen Aera sein.
Die erste authentische Nachricht brachte die „Nordd. Allg. Ztg.“ in der
Nr. 81 v. 4. 4. 78: „Der Zeitpunkt, zu welchem Graf Stolberg das Vize-
präsidium des Staatsministeriums formell übernehmen wird, hängt selbst-
verständlich mit den Rücksichten auf die zur Zeit schwebenden politischen Ver-
handlungen zusammen, an welchen der Botschafter in Wien Anteil zu nehmen
hat. Das Entscheidende für die Berufung des Grafen Stolberg in den inneren
Staatsdienst war, daß für die Zeit der Behinderung des Fürsten Bismarck eine
volle Stellvertretung desselben in allen seinen Stellungen wünschenswert erscheine.
Daraus folgt, daß für den Augenblick der thatsächliche Eintritt des Grafen
Stolberg eine so unmittelbare Dringlichkeit nicht besitzt, um seine Abreise von
Wien gerade jetzt zu beschleunigen, da Fürst Bismarck voraussichtlich noch
längere Zeit in Berlin verweilen wird."“
Graf Stolberg traf erst nach dem Attentat vom 2. Juni 1878 in Berlin
ein, und sein Name steht neben dem des Fürsten Bismarck unter den Akten-
stücken, welche die Stellvertretung des Kaisers durch den Kronprinzen regelten,
auf den wirklichen Kanzler erhält, so würde kein Stadium der Erziehung zu diesem höchsten
Amt im Reich übersprungen sein. Daß dieser Hauptstamm der Stolberge politisch und
kirchlich nicht aus der konservativen Art seines Hauses geschlagen, ist aus seinem mehr-
jährigen Präsidium des Herrenhauses bekannt; in dieser Beziehung hindert ihn nichts, nach
dem Fürsten Bismarck Otto II. zu werden.“