Full text: Fürst Bismarck und der Bundesrat. Dritter Band. Der Bundesrat des Deutschen Reichs (1873-1878). (3)

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küchen, Arbeiterausschüssen und wohlgesetzten Tafelreden ging man der sozialen 
Frage heftig zu Leibe. Da diese Art von Sozialpolitik äußerst geringe Betriebs- 
kosten erfordert und es überall Leute gibt, denen es eine Wohlthat ist, die 
Hand eines Ministers schütteln zu dürfen, so verbreitete sich die neue Sozial- 
politik an beiden Ufern des Rheins, besonders in den Bergischen Landen, mit 
reißender Schnelligkeit. Wie das Zentrum überall in der Erbeutung billiger 
Volkstümlichkeit allen andern Parteien voraus ist, so sind die ultramontanen 
Industriellen von Anfang an die eifrigsten Anbeter der neuen Berlepschen Lehre 
gewesen, und ist das Zentrum dieser jungen Liebe bis auf den jüngsten Tag 
treu geblieben. Es kann allen diesen Personen der Vorwurf nicht erspart 
bleiben, daß sie durch die Unterstützung dieser weinerlichen Sozialpolitik die 
aller Orten herrschende Ansicht gefördert haben, als wenn vor der Aera Berlepsch 
die Rheinprovinz der Schauplatz des grauenhaftesten Kapitalismus gewesen sei. 
Herr v. Berlepsch aber bildete bald den erklärten Liebling der neuen Sozial- 
politiker, welche sich fast der gesamten Literatur bemächtigt haben, und obwohl 
unter einander durch ungeheure Klüfte geschieden, den gemeinsamen Gedanken 
zum Ausdruck bringen und zum Leitmotiv haben, daß derjenige, welcher das 
Unglück in der Welt beweint, höher steht als derjenige, welcher gegen das 
Unglück arbeitet und gegen das Unglück Arbeit schafft. 1889 brach der große 
Bergarbeiterstreik aus. Im Hauptherd der unruhigen Bergarbeiterbevölkerung 
Gelsenkirchen kam es zu Gewaltthätigkeiten; Gendarmerie und Infanterie griffen 
ein auf die berechtigte Anordnung des Oberpräsidenten der Provinz Westfalen 
hin. Von den Höhen der rheinischen Grenzorte Oberhausen, Essen und Steele 
konnte ein scharfes Auge überall die Helmspitzen blinken sehen. Außerdem ist 
die Bergarbeiterbevölkerung im rheinischen Teile des Industriebezirks dünner 
gesät und seßhafter, auch mangelt ihr das in Gelsenkirchen und nordwärts 
vorherrschende polnische Element. Es gehört daher nicht in das Gebiet der 
Wunder, wenn die Rheinprovinz ruhiger blieb. Und diese Thatsache genügte, 
um zu beweisen, daß Herr v. Berlepsch es durch seine weisen sozialpolitischen 
Maßregeln fertig gebracht habe, der Rheinprovinz den sozialen Frieden zu sichern“. 
Worin diese sozialpolitischen Maßregeln bestanden, wußte allerdings niemand, 
weder in Berlin noch in Düsseldorf.“ 
Daß sich die sozialpolitische Thätigkeit des Regierungspräsidenten in Düssel- 
dorf in einem ausgesprochenen Gegensatze zu der Politik Bismarcks bewegt habe, 
kann man nicht behaupten. Wäre diese Vermutung eine begründete, so würde 
Bismarck niemals daran gedacht haben, dem Kaiser Berlepsch zu seinem Nach- 
folger im Handelsministerium vorzuschlagen (4. Januar 1890), als er selbst 
den Kreis seiner Thätigkeit durch Abgabe dieses Ressorts einzuschränken gewillt 
war. Berlepsch war berufen, die sogenannten Kaiserlichen Arbeitererlasse vom 
4. Februar 1890 auszuführen, welche Bismarck wohl hatte abschwächen, aber 
nicht verhindern können. Da Bismarck zur Zeit der Ernennung Berlepschs zum 
Poschinger, Fürst Bismarck und der Bundesrat. III. 27
	        
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