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schweig dem König Georg V. die Mitteilung zu machen, daß man in Braunschweig be-
absichtige, durch ein Gesetz die Verhältnisse des Landes nach dem Tode Herzog Wilhelms
zu regeln, und zwar durch Berufung eines Regenten, wenn binnen einem Jahre nach dem
Tode des Herzogs der berufene Erbe nicht in der Lage sei, die Regierung zu übernehmen.
Der König erklärte, daß er vollkommen einverstanden sei mit den beabsichtigten Schritten,
die er für die einzig richtigen hielte, daß er aber selbstverständlich bei dem eintretenden Tode
des Herzogs seine Rechte formell in Anspruch nehmen und gegen die Einsetzung eines
Regentschaftsrats beziehungsweise Wahl eines Regenten protestiren werde. Der König
zeigte volles Verständnis für die schwierige Lage des Herzogtums Braunschweig, und darf
man wohl annehmen, daß auch der Herzog von Cumberland auf dem Standpunkte seines
Vaters steht und ernstlich nie daran gedacht hat, ohne Zustimmung der preußischen Re-
gierung den braunschweigischen Thron zu besteigen. Freiherr v. Cramm hat während seines
Aufenthalts in Paris (August 1877 bis Oktober 1878) oft mit dem König Georg V. ver-
kehrt, und er hatte dadurch die Gelegenheit, zu sehen, wie bewunderungswürdig der hohe
Herr sein schweres Geschick trug. Den letzten Geburtstag des Königs konnte Cramm mit-
feiern und bald darauf unter denen sein, die dem Entschlafenen das Geleit zu der pro-
visorischen Ruhestätte in der Kirche der lutherischen Gemeinde gaben.
Als im November 1878 die Wahlen für den braunschweigischen Landtag stattfanden,
wurde Cramm, der durch eine kurz vorhergehende Kandidatur für den 3. braunschweigischen
Wahlkreis in seinem engeren Vaterlande die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, zum
Abgeordneten von den höchstbesteuerten Grundbesitzern I. Klasse gewählt, und zwar, was
bei der Sache das überraschendste war, durch die bäuerlichen Grundbesitzer, die die große
Majorität in dem Wahlkörper hatten, gegen einen bäuerlichen Abgeordneten, der bis dahin
dem Landtag angehörte und wieder gewählt zu werden wünschte.
Herr v. Cramm ist dann bis zu seiner Mission nach Berlin ein eifriges Mitglied des
Landtags gewesen und hat teil genommen an den gesetzgeberischen Arbeiten der Jahre 1878
bis 1885 als Mitglied der wichtigsten Kommissionen. Auch der Kommission, welche das
Regentschaftsgesetz vorbereitete, gehörte er an, wie auch nach dem Tode des Herzogs
Wilhelm der staatsrechtlichen Kommission.
In den Jahren 1881 und 1884 wurde Cramm wieder veranlaßt, als Kandidat für
den Reichstag aufzutreten, das erste Mal im 2. braunschweigischen Wahlkreise, das zweite
Mal im 3.; 1881 siegte der Kandidat der Linksliberalen im ersten Wahlgange, 1884 kam
Cramm in die Stichwahl mit dem freisinnigen Kandidaten, der die Majorität gewann,
während Cramm eine erhebliche Zahl Stimmen auf sich vereinigte. Da die Wahlbewegung
in die Zeit bald nach dem Tode des Herzogs Wilhelm fiel, so hatte Cramm vielfach Ge-
legenheit, seinen Standpunkt in der Erbschaftsfrage klarzulegen. Das Erbrecht des Herzogs
von Cumberland erschien ihm unbestreitbar, aber ebenso sicher war ihm, daß der Herzog
nur mit Zustimmung Preußens und des Reiches die Regierung in Braunschweig über-
nehmen könne. „Der Weg von Gmunden nach Braunschweig führt nur über Berlin,“
das Wort, welches Herr v. Cramm in einer Wahlversammlung aussprach, drückte seine
Meinung, die zugleich die der überwältigenden Mehrzahl seiner Landsleute war, kurz und klar aus.
Als im April 1885 der braunschweigische Bevollmächtigte zum Bundesrat und
Ministerresident am Königlich preußischen Hofe, Herr v. Liebe, gestorben war, wurde einige
Wochen später dem Freiherrn v. Cramm der vakante Posten angeboten, der ihm bereits
von dem verstorbenen Herzog für den Fall einer Vakanz zugedacht gewesen war. Da der
Regentschaftsrat Anstand nahm, einen Ministerresidenten zu ernennen, wurde Freiherr
v. Cramm zunächst zum Geschäftsträger und Bevollmächtigten zum Bundesrat ernannt.
Der Regent ernannte ihn später zum Ministerresidenten und im Jahre 1888 zum außer-
ordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Minister.