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Hoenig in seinem Werke: „Der Volkskrieg an der Loire“ (Verlag von E. S.
Mittler & Sohn) wie folgt zusammen:
Oberstlieutenant v. Caprivi besaß eine abgeschlossene Gymnasialbildung,
als er in die Armee eintrat. Seine hauptsächlichsten Charaktereigenschaften sind
Wohlwollen, Mildthätigkeit, strenges Pflichtgefühl, Gerechtigkeitssinn, Zurück-
haltung und Zähigkeit. Er kannte keine Rücksicht auf seine Person, war un-
ermüdlich thätig und opferte sich völlig seinen Dienstpflichten. Er war frei
von Vorurteilen und hörte ruhig die Meinungen anderer, ging auf Einwände
ein, konnte jede Meinung vertragen und nahm es nicht übel, wenn man auf
der eigenen Ansicht beharrte. Obwohl er gut und fließend sprach, war er
kein Freund des Redens. Er wußte sich schnell in fremde Gebiete einzuarbeiten.
Zu statten kam ihm hierbei seine hohe allgemeine wissenschaftliche Bildung, ein
eiserner Fleiß und große Geduld.
Caprivi war schon als Stabschef eine ausgereifte, in sich abgeschlossene
Persönlichkeit, abgemessen, überlegt und vorsichtig im dienstlichen und privaten
Verkehr und Umgang. Er war eine nüchtern angelegte Natur, doch besaß er
ein kräftiges Selbstbewußtsein. General v. Voigts-Rhetz pflegte mit Caprivi
die zu ergreifenden Maßnahmen nur im allgemeinen zu besprechen, überließ
ihm im übrigen ihre Ausarbeitung bis ins einzelne. Da er sich in seiner
Thätigkeit durchaus sicher fühlte, so machte er seinem kommandirenden General
nur von wichtigen Dingen Meldung und hielt alle Nebensachen von ihm mit
Vorbedacht fern.
Caprivi galt mehr als Organisator und methodisch geschulter Generalstabs-
offizier denn als Führer im weiteren Sinne des Wortes.
Man hat später vielfach behauptet, Caprivi sei nur „groß im Kleinen“
gewesen. Das ist unrichtig. Er bildete sich durch gründliches Nachdenken eine
Ansicht und hielt an ihr mit Zähigkeit fest. Er war unnachgiebig in den
Grundsätzen und hatte als Organisator auch große Gesichtspunkte.
Caprivi mochte manchem kalt erscheinen; er war es aber durchaus nicht.
Wer Gelegenheit hatte, mit ihm zu verkehren, lernte seine Herzensgüte schätzen.
Er konnte auch in freien Stunden und im vertrauten Kreise frisch von der
Seele weg plaudern und ein unterhaltender Gesellschafter sein.
Auf der Lauterkeit seines Charakters beruht wohl die große Liebe, die
Caprivi sich in allen Dienststellungen erworben hat, und die namentlich dem
Stabschef 1870/71 entgegengebracht wurde.
Caprivi hat sich als Offizier nicht aktiv an der Politik beteiligt; er ver-
folgte jedoch die politischen Begebenheiten mit Aufmerksamkeit und war ein
fleißiger Zeitungsleser, dies namentlich im Felde. Niemals hat er sich berufen
geglaubt, der Nachfolger des Fürsten Bismarck zu werden; sein Ehrgeiz ging
in seinem militärischen Berufe auf. Er hat auch nicht nach der Nachfolgerschaft
Moltkes gestrebt; im Gegenteil sind zahlreiche Aeußerungen des Sinnes von