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Begründung des Reichs in den Händen der ständig in Berlin anwesenden
Mitglieder. Die Grundlage für deren Verhalten bildeten stets die von der
Regierung gegebenen Instruktionen. Diese waren in richtiger Erkenntnis der
Verhältnisse so abgefaßt, daß dem Vertreter hinreichend freier Spielraum zur
selbständigen Mitwirkung bei den in den Sitzungen hervortretenden Anträgen
und Gegenanträgen u. s. w. gegeben war. Die kluge und den Intentionen
der Staatsregierung entsprechende Benutzung dieser Befugnis, die Verwertung
der sozialen Stellung zur Gewinnung von Bundesgenossen u. s. w. war somit
für die ersprießliche Thätigkeit eines Bevollmächtigten von hohem Werte.
Von dem Augenblicke an, als die Arbeiten des Bundesrats beziehungsweise
des Reichstags sich in größerem und wichtigerem Maße auf die Ressorts der
Justiz und des Innern ausdehnten, wurden zu vorübergehendem Aufenthalte in
Berlin besondere Beamte, sogenannte stellvertretende Bevollmächtigte abgeordnet.
Mit Ausnahme des später zu erwähnenden Justizministers v. Fäustle, welcher
zum Zweck der Beteiligung an den Beratungen der Justizgesetze mehrmals längere
Zeit in Berlin verweilte, war die Anwesenheit der bayerischen Minister nur eine
ganz vorübergehende, deren Anlaß entweder eine besonders wichtige Frage, zum
Beispiel das Jesuitengesetz, oder nur etwa Repräsentationspflicht war. Abgesehen
von diesen Spezialfällen kann somit von einer Thätigkeit der gedachten Minister
im Bundesrate nur insoweit gesprochen werden, als dieselben bei der Feststellung
und Erteilung der Instruktionen mitgewirkt haben.
Die Anwesenheit des Ministers v. Pfretzschner in Berlin erfolgte meines
Wissens nur dreimal, und zwar in den Jahren 1871, 1874 und 1878. Daß
er bei solcher Gelegenheit die bayerische Stimme und in Abwesenheit Bismarcks
den Vorsitz im Bundesrat führte, versteht sich von selbst.
Bei der am 122. März 1871 aus Anlaß des kaiserlichen Geburtstags
seitens des Bundesrats erfolgten Beglückwünschung des Kaisers war Freiherr
v. Pfretzschner der Wortführer. Nachdem derselbe seine Ansprache geendet, trat
der Kaiser in die Mitte der Herren, dankte für die ihm dargebrachten Glück—
wünsche, dankte dem Bundesrate für dessen bisherige aufopfernde Thätigkeit und
nahm seine fernere Mitwirkung bei dem inneren Ausbau des Deutschen Reiches
in Anspruch. Der Kaiser fügte hinzu, er habe nicht gesucht, an die Spitze
Deutschlands zu treten; er sei sich bewußt, eine schwere Verantwottlichkeit auf
sich geladen zu haben. Er wolle aber allen seinen Willen, all seine Kraft ein-
setzen, um die übernommenen Pflichten zu erfüllen.
Das gute Verhältnis zwischen Bismarck und Pfretzschner beweisen die
wiederholten Besuche desselben bei Gelegenheit der Anwesenheit des Kanzlers in
Kissingen (25. Juli 1874, 23. Juni 1877, 22. bis 24. Juli 1878) und das
Schreiben, das der letztere an Pfretzschner aus Anlaß seines Rücktritts richtete. 1)
1) Bismarck bedauerte darin den Rücktritt lebhaft. Vgl. die „Post“ 1880 Nr. 77.