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Berlin, 30. März 1871.
An Frau Wanda v. Koethe.
„Heute steht die Adreßdebatte auf der Tagesordnung des Reichstags, die
wahrscheinlich dadurch ein größeres Interesse erhalten wird, daß die katholische
Fraktion einen besonderen Adreßentwurf aufgestellt hat und daher zu erwarten
ist, daß der Gegensatz, in welchem diese Fraktion zu den übrigen Parteien des
Hauses steht, bei dieser Gelegenheit mit aller Schärfe hervortreten wird. Herr
v. Savigny ist einer der Führer der Fraktion, wird sich aber wohl ziemlich
schweigsam verhalten. Wie man ihn beurteilt, magst Du aus dem Witz ent-
nehmen, der neulich über ihn gemacht wurde: Sein Anschluß an die katholische
Partei zeige recht deutlich, daß er am zurückgetretenen Bundeskanzler“ leide.“!)
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Berlin, den 18. Oktober 1871.
An Frau Wanda v. Koethe.
„Die ersten Tage sind mir hier schnell vorübergegangen; Besuche, Ausschuß—
und Bundesratssitzungen, Festlichkeiten, Konferenzen unter uns Thüringern, von
denen Larisch und Harbou bereits heute den Rückzug angetreten haben, auch
einige „Eiligst“" aus der Heimat wirken dabei zusammen.
Das neue Parlamentsgebäude ist sehr zweckmäßig eingerichtet, und bei
seinem Umfang ist es kaum glaublich, daß ein Zeitraum von nur drei Monaten,
in den noch überdies der hiesige Maurerstrike fällt, hingereicht hat, es fix und
fertig herzustellen.:) Allerdings macht sich die Neuheit noch etwas geltend; der
Oelgeruch ist überall noch ziemlich stark, namentlich in den für den Bundesrat
bestimmten Räumlichkeiten, die wohl auch deshalb bis jetzt noch unbenützt ge-
blieben sind.
Gestern war großes Diner bei dem Kaiser, zu dem sämtliche Mitglieder
des Bundesrats geladen waren; ich habe die Gelegenheit wahrgenommen, meinen
Dank für das Eiserne Kreuz dem hohen Herrn zu. Füßen zu legen, der, wie
immer, die Liebenswürdigkeit selbst war und vortrefflich aussah.“
" Berlin, 11. November 1871.
An Frau Wanda v. Koethe.
„Die heutige Soirée bei Fürst Bismarck ist wegen des Todes seines
Schwiegervaters schriftlich abgesagt worden, und zwar mit dem Bemerken, daß
der Herr Reichskanzler hoffe, die Herren am 18. und 25. zur gewohnten
1) Ueber die Feindschaft, die Savigny gegen Bismarck hegte, seitdem er die Hoffnung
hatte aufgeben müssen, Bundeskanzler zu werden, vergleiche mein Werk: „Fürst Bismarck und
die Parlamentarier“ Bd. II. S. 162 f., vergleiche auch Bd. III. S. 256 u. 257.
2) Dies war nur möglich infolge des energischen Eingreifens Bismarcks; vergleiche die
von mir herausgegebenen „Erinnerungen aus dem Leben von Hans Viktor v. Unruh“
S. 334 f.