— 239 —
angedeihen zu lassen. 1) Eine dissentirende Stellung nahm, so viel bekannt,
nur die braunschweigische Regierung ein, welche zu dem betreffenden Gesetz-
entwurf formulirte Abänderungsanträge stellte. 2) Gesetz vom 21. Dezember
1871 (Reichs-Gesetzbl. S. 459).
1) „National-Zeitung“ Nr. 148 vom 28. März 1871, Nr. 471 vom 8. Oktober 1871;
„Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ Nr. 76 vom 30. März 1871.
2) Dieselben waren in drei Abschnitten in folgender Weise erläutert:
I. Die Rayonbeschränkungen sind keine im Expropriationswege aufzulegende Servituten.
Sie dienen nicht zum Nutzen oder zur Annehmlichkeit eines andern Grundstückes, sondern
werden für den Staatszweck der Verteidigung des Landes aufgelegt. Es ist überhaupt
nicht richtig, gesetzliche Eigentumsbeschränkungen schlechthin als Servituten zu behandeln und
ihre Einführung aus dem Gesichtspunkte der Expropriation anzusehen. Eine Festung kann
nicht umbaut sein; hat man keine Rayonbestimmungen, und sind Vorstädte, Straßen oder
einzelne Gebäude entstanden, die dem Angriffe dienen oder die Verteidigung erschweren, so
werden dieselben, wenn es zu Krieg oder Belagerung kommt, entweder vom Belagerer oder
zunächst von dem Belagerten selbst zerstört. Dann erhält für solche Kriegsschäden niemand
Entschädigung. Ordnet man also Rayonbeschränkungen an und verbietet das Bauen in der
Nähe der Festung, so hat das den zweifachen Sinn, daß man die große Schwierigkeit, eine
plötzlich notwendige Zerstörung auszuführen, vermeidet, und daß man das Publikum vor
Schaden bewahrt. Es ist zuzugestehen, daß die Gesetzgebung wohlerworbene Rechte nicht
ohne Grund und nicht ohne Entschädigung aufheben soll. Dagegen ist allgemein nicht zu-
zugestehen, daß für jede durch Gesetz dem Privatus auferlegte Beschränkung seines Eigentums
oder der freien Benutzung desselben nach Geist und Absicht der allgemein grundrechtlichen
Sätze (§§ 29—31 des allgemeinen Landrechtes und § 33, der von den Beschränkungen des
Eigentums handelt) Entschädigung gegeben werden müsse. Es bleibt lediglich Frage der
legislativen Politik, ob in einer besonderen Materie eine Entschädigung überwiegende Gründe
der Billigkeit für sich habe und an sich ohne zu große Belastung des Fiskus ausführbar
sei. Die Frage wird regelmäßig verneint werden müssen, wenn es sich a) nicht um Ent-
ziehung der Substanz der Sachen, sondern bloß um Beschränkungen des freien Gebrauchs,
und b) nicht um Maßregeln gegen einzelne Individuen, sondern allgemeine gesetzliche An-
ordnungen handelt. Festungen können einmal nicht wie offene Städte nach außen über die
Enceinte hinauswachsen und sich ausdehnen. Das Verbot trifft kein Individuum, sondern
eine ganze Klasse von Städten, berührt in seiner Anwendung jeden und unterscheidet
sich nicht von anderen baupolizeilichen Verboten. Die Konsequenzen, die aus einer Ver-
schiebung des Prinzips und einer Vermischung hierher gehöriger Fälle mit eigentlichen
Expropriationsfällen folgen, lassen sich kaum übersehen. Mit gleichem Rechte würden alle
Hauseigentümer, die in ihren Häusern keine Pulvermühlen oder Petroleumniederlagen haben
dürfen, alle Pferdehändler bei Ausfuhrverboten, alle Branntweinfabrikanten bei Verboten
des Brennens aus Kartoffeln oder Getreide in Notzeit r2c., Entschädigung beanspruchen.
Dann kann auch schwerlich von überwiegender Billigkeit die Rede sein; die Benntzung der
Grundstücke als Anger, Aecker, Wiesen und Gärten bleibt ganz frei; für wirklich weg-
genommene Anlagen wird entschädigt, und nur der Gewinn, der sich durch die Preis-
steigerung bei Bauplätzen in der Nähe großer Städte machen läßt, wird vereitelt. Die
Bestimmung des Entwurfs endlich, daß nur für künftig entstehende Beschränkungen ent-
schädigt werden soll, ist lediglich Folge der Besorgnis vor ganz unerträglichen Lasten. In
sich begründet ist die Unterscheidung nicht; man sieht, wie der Zeitpunkt, zu dem die Ein-
ziehung in den Rayon erfolgt, auf die rechtliche Seite der Sache Einfluß haben soll.