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Der Verfassungsausschuß begründete die von ihm vorgenommenen Abände-
rungen der Vorlage 1) in einem ausführlichen Bericht, dem wir folgendes ent-
nehmen: Ueber die erste Frage, in welcher Weise die neu erworbenen Lande
mit Deutschland vereinigt werden sollen, bemerkte der Bericht, können ver-
schiedene Ansichten obwalten. Einerseits könne geltend gemacht werden, daß die
Wiedergewinnung von Elsaß und Lothringen ein Ergebnis gemeinsam vom
deutschen Volke ausgeführter Thaten sei, in denen das deutsche Volk seine Einig-
keit und Größe wiedergefunden habe, und daß deshalb die wiedererworbenen
Lande dem ganzen Reiche einverleibt, weder einem Einzelstaate zugewiesen noch
zugeteilt werden dürfen. Andererseits könne hervorgehoben werden, daß es sich
bei dem Friedensabschluß nicht um Ländererwerb und Eroberung, sondern ledig-
lich um Sicherheit der deutschen Grenzen gegen einen vielleicht wieder zu be-
kämpfenden Feind handle. Von diesem Standpunkt aus käme es nur darauf
an, das Erworbene sicher zu behaupten, und dies würde gewiß ebenso gut wie
durch Einverleibung in das Reich, auch durch Vereinigung mit Preußen, dem
mächtigsten Staate, herbeigeführt werden können. Denn die Interessen des Reichs
und Preußens seien in dieser Beziehung identisch, und kein Glied des Reichs
würde sich beeinträchtigt fühlen, wenn Preußen nicht als Mandatar, sondern
zu eigenem Recht die Souveränität über Elsaß und Lothringen überkäme. Eine
solche Regelung hätte sogar vielleicht noch andere Vorteile. Es wäre die Ver-
einigung mit einem Großstaate den erworbenen Landen vielleicht zuträglicher
als die Einverleibung in das Reich, eine neue, von Fernerstehenden noch schwer
verstandene Schöpfung. Auch sei die Reichsverfassung auf ein unmittelbares
Reichsland eigentlich nicht berechnet, dieselbe sei auf Bundesstaaten berechnet,
die noch eine besondere Landesverfassung hätten. Elsaß und Lothringen aber
solle kein selbständiger Bundesstaat werden, und die Reichsverfassung enthalte
auch nichts, was die Landesverfassung zu ersetzen im stande wäre. Auch das
Reich selbst, so könne man sagen, das ohnehin verwickelt genug sei, dürfte durch
eine weitere Komplikation, wie sie die Verwaltung der Landesangelegenheiten
des Elsaß herbeiführe, schwerlich gewinnen. Indessen habe freilich Preußen
zu entscheiden, ob es eine unmittelbare Annexion wünsche oder nicht; der Aus-
schuß habe nur konstatiren wollen, daß einer solchen hier besprochenen Lösung
wenigstens kein Widerstreben entgegentreten würde. Gelegentlich führte der Bericht
aber an, daß die Bevölkerung von Elsaß und Lothringen das unmittelbare
Verhältnis zum Reiche wünsche, dafür lägen thatsächliche Anhaltspunkte vor. 2)
Der Bericht fuhr dann im wesentlichen weiter fort: 2. Wenn die Ver-
1) Dieselben sind in der „National-Zeitung“ Nr. 186 vom 21. April 1871 in dem
ursprünglichen Entwurfe mit gesperrter Schrift hervorgehoben.
2) Die vorstehenden Erwägungen, welche für eine Einverleibung von Elsaß-Lothringen
in den preußischen Staat geltend gemacht wurden, fehlten in den später dem Reichstag zu-
gegangenen Motiven.