— 286 —
Steuern einen sehr ansehnlichen Ertrag liefern müssen, denn mit den jetzigen
Matrikularbeiträgen wird der nächste Etat — wenn ich recht berichtet bin —
schon ein Defizit von 35 Millionen aufweisen. Wie ich von Neidhardt hörte,
hat Gerstenberg diesen in der Sache mit Instruktionen versehen, und werde ich
also wohl nicht die Freude haben, ihn hier zu sehen.“
*
Gotha, den 28. Januar 1873.
An Frau Wanda v. Koethe.
„Du nöchtest gern von mir hören, wie ich über die Berliner Ministerkrisis
denke. Ueber diese Frage hat sich inzwischen der Herr Reichskanzler selbst so
ausführlich und bestimmt ausgesprochen, 1) daß damit die Sache vielleicht als
erledigt betrachtet werden könnte. Indes bin ich doch im Zweifel, ob er wirklich
alles gesagt hat, und ob namentlich der von ihm angegebene Grund seines
Rücktritts von dem Ministerpräsidium der richtige und nicht bloß ein Vor-
wand ist. Ich bin auch heute noch geneigt, das letztere anzunehmen. Ver-
gegenwärtige ich mir die Schärfe, mit der Fürst Bismarck die Notwendigkeit,
daß die Funktionen des preußischen Ministerpräsidenten und des Reichskanzlers
in einer Person vereinigt seien, zu wiederholtenmalen betont hat, so kann ich
mir unmöglich denken, daß lediglich der Wunsch, seine Arbeitslast vermindert zu
sehen, ihn bestimmt habe, die ersteren aufzugeben, und dies um so weniger, als
sich ihm sicher die eine oder die andere Möglichkeit dargeboten haben würde,
diesen Wunsch zu erreichen, ohne dem von ihm früher mit solcher Entschiedenheit
vertretenen Standpunkt untreu zu werden.
„Ueber das eigentliche Motiv bin ich freilich vollständig im unklaren, halte
aber doch für meine Person für das Wahrscheinlichste, daß er in Bezug auf
die Reform des Herrenhauses 2) in dem Ministerium auf Widerstand gestoßen,
und es ihm nicht möglich geworden ist, denselben zu brechen.
„Dagegen bin ich allerdings überzeugt, daß die eingetretene Veränderung
auf die politische Haltung des Ministeriums ohne allen Einfluß bleiben wird,
und seine Worte in dieser Beziehung vollen Glauben verdienen. Er ist nicht
der Mann, sich unterzuordnen oder eine Vergangenheit zu verleugnen, die seinen
Namen zu einem weltgeschichtlichen macht. So lange er also an der Spitze der
Reichsverwaltung bleibt, so lange wird er auch für die preußische Politik die
maßgebende Persönlichkeit bleiben, und so lange der jetzige Kaiser lebt, wird es
auch den ihm feindlich gesinnten Elementen, an denen es ja gewiß nicht fehlt,
1) In der Reichstagssitzung vom 25. Januar 1873. Am 1. Januar 1873 war Graf
Roon an Stelle des Fürsten Bismarck zum Vorsitzenden des Staatsministeriums ernannt
worden.
2) Ueber Bismarcks Ansichten in Betreff desselben ist zu vergleichen mein Werk: „Er-
innerungen aus dem Leben von Hans Viktor v. Unruh“ S. 276, 349, 350.