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schließen würde, nach dem jeweiligen Ermessen der gesetzgebenden Faktoren in
Betreff der Bedürfnisfrage, schon bevor eine umfassende Kodifikation des Privat-
rechts notwendig und möglich geworden ist, durch Erlaß spezieller, nur einzelne
Materien betreffenden Gesetze vorzugehen. Durch die Möglichkeit eines solchen
regellosen Erlasses von Reichs-Spezialgesetzen auf dem ganzen Gebiete des Privat-
rechtes würde nicht nur schon jetzt die Thätigkeit der Landesgesetzgebungen in
allen Zweigen des Zivilrechts lahm gelegt, sondern auch eine erhöhte Rechts-
unsicherheit geschaffen, da die Spezialbestimmungen zu dem in Kraft bleibenden
übrigen Inhalte der Partikularrechte selten vollständig passen würden, letztere
daher in ihrem organischen Zusammenhange immer mehr alterirt werden würden.
Anbelangend die Gerichtsorganisation, so könne von der bayerischen Regierung
dem Reichstagsbeschlusse in seiner allgemeinen Fassung um so weniger bei-
gepflichtet werden, als derselbe den Verlust der den Bundesstaaten durch die
Reichsverfassung nicht entzogenen Justizhoheit zur notwendigen Konsequenz hätte.
Dagegen sei anzuerkennen, daß es auf diesem Gebiete eine Reihe von Fragen
gebe, ohne deren gleichmäßige Regelung die in Aussicht genommenen Gesetze
über das Zivil= und Strafverfahren nicht zum Abschluß gebracht werden könnten.
Zur Erreichung dieses Zweckes erscheine aber jene Veränderung der Reichs-
verfassung nicht erforderlich, weil viele Punkte schon im Bereiche des „gericht-
lichen Verfahrens“ im Sinne des Artikels 4 Nr. 13 der Reichsverfassung
liegen und da, wo die Grenzen streitig sind, sich der Weg loyaler Verständigung
empfehlen dürfte. Unter allen Umständen sei wünschenswert, daß die einseitige
Aufstellung eines ersten Entwurfes des Gesetzes über gemeinsame Bestimmungen
für die Gerichtsverfassung vermieden werde, und daß sich Vertreter der am
meisten beteiligten Staaten schon bei dem ersten Aufbau des Gesetzes durch
persönlichen Zusammentritt und eingehende mündliche Beratungen aller sich dar-
bietenden Fragen beteiligten.
Sachsen schloß sich den Ausführungen Bayerns und Württembergs im
wesentlichen an.
Fürst Bismarck, der in der Sitzung den Vorsitz führte, konstatirte, daß
Meinungsverschiedenheiten mehr in der Form als in der Sache vorhanden
schienen, und auf seinen Antrag wurden diejenigen Regierungen, die gegen den
Antrag waren, eingeladen, ihre Ansichten und Vorschläge zu formuliren; damit
wurde der Antrag behufs weiterer Anträge den Ausschüssen nochmals über-
wiesen. 1)
1) Die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ Nr. 84 vom 11. April 1872 bemerkte in
ihrem Referat über die Bundesratssitzung: „An Stelle des abwesenden Referenten der
Ausschüsse, des württembergischen Geheimrats v. Kohlhaas, referirte der württembergische
Justizminister v. Mittnacht und erklärte sich im Sinne des Berichtes und des Antrages
der Ausschüsse, besonders unter Bestreitung der Bedürfnisfrage gegen den Antrag. In der
an das Referat sich knüpfenden Debatte traten zwei Richtungen hervor: die eine im Sinne
des Antrages für die Kompetenzerweiterung im Prinzip, die andere nicht gegen eine Kom-