Auszüge aus Gerlachs Briefen. Ministerkrisen. 109
Rußland so weit festzuhalten, daß wir diesem bis dahin besreundeten
Nachbar gegenüber nicht direct feindlich auftraten, dann spitzte
sich die Sache in der Regel dahin zu, daß eine Cabinetskrisis
zwischen dem Könige und dem Ministerpräsidenten entstand und
der erstre dem letztern gelegentlich mit mir oder auch mit dem
Grafen Alvensleben drohte, in einem Falle auch, im Winter 1854,
mit dem Grafen Albert Pourtalès aus der Bethmann-Hollwegschen
Coterie, obschon dessen Auffassung der auswärtigen Politik die
entgegengesetzte von der meinigen und auch mit der des Grafen
Alvensleben schwerlich verträglich war.
Das Ende der Krisis führte den König und den Minister stets
wieder zusammen. Von den drei Gegencandidaten hatte Graf Alvens-
leben ziemlich öffentlich erklärt, er würde unter diesem Monarchen
nie wieder ein Amt annehmen. Der König wollte mich zu ihm
nach Erxleben schicken; ich rieth davon ab, weil Alvensleben mir
vor kurzem obige Erklärung mit Bitterkeit in Frankfurt wiederholt
hatte. Als wir uns später wiedersahen, war seine Verstimmung
gehoben, er war geneigt, einer Aufforderung Sr. Majestät ent-
gegen zu kommen, und wünschte, daß ich in dem Falle mit ihm
eintreten möge. Der König ist aber mir gegenüber nicht auf
Alvensleben zurückgekommen, vielleicht weil in der Zeit nach mei-
nem Besuche in Paris (August 1855) eine Erkältung am Hofe,
und namentlich bei Ihrer Majestät der Königin mir gegenüber ein-
getreten war. Graf Pourtalès war dem Könige wegen seines Reich-
thums „zu unabhängig" 1). Der König war der Meinung, daß arme
und auf Gehalt angewiesene Minister gehorsamer wären. Ich
selbst entzog mich der verantwortlichen Stellung unter diesem Herrn,
wie ich konnte, und söhnte ihn immer wieder mit Manteuffel aus,
den ich zu diesem Zwecke auf dem Lande (Drahnsdorf) besuchte ?).
1) S. u. S. 138.
2:) Vgl. die Aeußerung in der Reichstagsrede vom 6. Febr. 1888, Poli-
tische Reden XII 448 f.