122 Sechstes Kapitel: Sanssouci und Coblenz.
nalität und Geburt ein vornehmeres Wesen sei als der Deutsche,
und daß der Beifall der öffentlichen Meinung von Paris und
London ein authentischeres Zeugniß des eignen Werthes bilde, als
unser eignes Bewußtsein. Die Kaiserin Augusta ist trotz ihrer
geistigen Begabung und trotz der Anerkennung, welche die Bethäti-
gung ihres Pflichtgefühls auf verschiednen Gebieten bei uns ge-
funden hat, doch von dem Druck dieses Alps niemals vollständig
frei geworden; ein sichrer Franzose mit geläufigem Französisch 32)
imponirte ihr, und ein Engländer hatte bis zum Gegenbeweise die
Vermuthung für sich, daß er in Deutschland als vornehmer Mann
zu behandeln sei. So ward es in Weimar vor 70 Jahren gehalten,
und der Nachgeschmack davon hat sich mir in meiner amtlichen
Thätigkeit oft genug fühlbar gemacht. Wahrscheinlich hat in der
Zeit, von der die Rede ist, auch das Streben nach der englischen
Heirath ihres Sohnes die Prinzessin von Preußen in der Richtung
bestärkt, in welche Goltz und seine Freunde ihren Gemal zu ziehn
suchten.
Der Krimkrieg brachte die von Kind auf gewurzelte, früher
äußerlich nicht hervorgetretene Abneigung der Prinzessin gegen alles
Russische zur Erscheinung. Auf den Bällen Friedrich Wilhelm's III.,
wo ich sie als junge und schöne Frau zuerst gesehn habe, pflegte
sie in der Wahl der Tänzer Diplomaten, wohl auch russische, zu
begünstigen und unter ihnen solche, welche mehr für die Unter-
haltung als für den Tanz begabt waren, die Glätte des Parkets
versuchen zu lassen. Ihre später sichtbar und wirksam gewordene
Abneigung gegen Rußland ist psychologisch schwer zu erklären. Die
Erinnerung an die Ermordung ihres Großvaters, des Kaisers Paul,
hatte schwerlich so nachhaltig gewirkt. Näher liegt die Vermuthung
der Nachwirkung eines Dissenses zwischen der hochbegabten, social
und politisch russischen Mutter, der Großherzogin von Weimar,
und ihren russischen Besuchern und dem lebhaften Temperament
&) Ihr Vorleser (Gérard) galt als französischer Spion!