Briefwechsel mit Gerlach über Frankreich. 175
„Frankfurt, 30. Mai 1857.
Bei Beantwortung Ihrer beiden letzten Briefe bin ich unter
dem Drucke des Gefühls der Unvollkommenheit des menschlichen
Ausdrucks, besonders des schriftlichen; jeder Versuch sich klar zu
machen, ist der Vater neuer Mißverständnisse; es ist uns nicht ge-
geben, den ganzen Menschen zu Papier oder über die Zunge zu
bringen, und die Bruchstücke, welche wir zu Tage fördern, können
wir Andre nicht grade so wahrnehmen lassen, wie wir sie selbst
empfunden haben, theils wegen der Inferiorität der Sprache gegen
den Gedanken, theils weil die äußern Thatsachen, auf die wir Be-
zug nehmen, sich selten zwei Personen unter gleichem Lichte dar-
stellen, sobald der Eine nicht die Anschauung des Andern auf
Glauben und ohne eignes Urtheil annimmt.
Den Abhaltungen, die in Geschäften, Besuchen, schönem Wetter,
Faulheit, Kinderkrankheit und eigner Krankheit lagen, kam jenes
Gefühl zu Hülfe und entmuthigte mich, Ihrer Kritik mit fernern
Argumenten gegenüber zu treten, von denen jedes seine Halbheiten
und Blößen an sich tragen wird. Nehmen Sie bei der Beurthei-
lung Rücksicht darauf, daß ich Reconvalescent bin und heut den
ersten Marienbader getrunken habe, und wenn meine Ansichten
von den Ihrigen abweichen, so suchen Sie die Verschiedenheit
im Blättertrieb und nicht in der Wurzel, für welche ich vielmehr
meinen Ueberzeugungen die Gemeinschaft mit den Ihrigen stets
vindicire.
Das Prinzip des Kampfes gegen die Revolution erkenne auch
ich als das meinige an, aber ich halte es nicht für richtig, Louis
Napoleon als den alleinigen oder auch nur nor' 50 als den
Repräsentanten der Revolution hinzustellen, und halte es nicht für
möglich, das Prinzip in der Politik als ein solches durchzuführen,
daß die entferntesten Consequenzen desselben noch jede andre Rück-
sicht durchbrechen, daß es gewissermaßen den alleinigen Trumpf
im Spiele bildet, von dem die niedrigste Karte noch die höchste
jeder andern Farbe sticht.