Full text: Gedanken und Erinnerungen. Erster Band. (1)

224 Zehntes Kapitel: Petersburg. 
Erziehung er einen Antheil beanspruchte, war sein Wohlwollen für 
mich unbegrenzt, und die Formen, in denen er mir Vertrauen zeigte, 
überschritten die unter Diplomaten zulässige Grenze, vielleicht aus 
Berechnung, vielleicht aus Ostentation einem Collegen gegenüber, 
an dessen bewunderndes Verständniß mir gelungen war ihn glauben 
zu machen. Diese Beziehungen wurden unhaltbar, sobald ich als 
preußischer Minister ihm die Illusion seiner persönlichen und staat- 
lichen Ueberlegenheit nicht mehr lassen konnte. Hinc irae. Sobald 
ich selbständig als Deutscher oder Preuße oder als Rival im 
europäischen Ansehn und in der geschichtlichen Publicistik aufzutreten 
begann, verwandelte sich sein Wohlwollen in Mißgunst. 
Ob diese Wandlung erst nach 1870 begann oder ob sie sich 
vor diesem Jahre meiner Wahrnehmung entzogen hatte, lasse ich 
dahingestellt. Wenn Erstres der Fall war, so kann ich als ein 
achtbares und für einen russischen Kanzler berechtigtes Motiv den 
Irrthum der Berechnung in Anschlag bringen, daß die Entfremdung 
zwischen uns und Oestreich auch nach 1866 dauernd fortbestehn 
werde. Wir haben 1870 der russischen Politik bereitwillig bei- 
gestanden, um sie im Schwarzen Meere von den Beschränkungen 
zu lösen, welche der Pariser Vertrag ihr auferlegt hatte. Dieselben 
waren unnatürlich, und das Verbot der freien Bewegung an der 
eignen Meeresküste war für eine Macht wie Rußland auf die Dauer 
unerträglich, weil demüthigend. Außerdem lag und liegt es nicht 
in unserm Interesse, Rußland in der Verwendung seiner über- 
schüssigen Kräfte nach Osten hin hinderlich zu sein; wir sollen froh 
sein, wenn wir in unsrer Lage und geschichtlichen Entwicklung in 
Europa Mächte finden, mit denen wir auf keine Art von Con- 
currenz der politischen Interessen angewiesen sind, wie das zwischen 
uns und Rußland bisher der Fall ist. Mit Frankreich werden wir 
nie Frieden haben, mit Rußland nie die Nothwendigkeit des Krieges, 
wenn nicht liberale Dummheiten oder dynastische Mißgriffe die 
Situation fälschen.
	        
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