276 Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußische Politik.
nach der Juli-Revolution mehr als ein Jahr, um den Verfall seiner
Heereseinrichtungen so weit auszubessern, daß es eben nur seine
italienischen Interessen zu schützen im Stande war. Die öst-
reichische Politik war unter Metternich geschickt genug, um jede
Entschließung der drei östlichen Großmächte so lange zu verschleppen,
bis Oestreich sich hinlänglich gerüstet fühlte, um mitzureden. Nur
in Preußen functionirte die militärische Maschine, so schwerfällig
sie war, mit voller Genauigkeit, und hätte die preußische Politik
eigne Entschlüsse zu fassen vermocht, so würde sie Kraft genug ge-
funden haben, die Lage von 1830 in Deutschland und den Nieder-=
landen nach ihrem Ermessen zu präjudiciren. Aber eine selbständige
preußische Politik hat in der Zeit von 1806 bis in die vierziger
Jahre überhaupt nicht bestanden; unfre Politik wurde abwechselnd
in Wien und in Petersburg gemacht. So weit sie in Berlin von
1786 bis 1806 und 1842 bis 1862 selbständig ihre Wege suchte,
wird sie vor der Kritik vom Standpunkte eines strebsamen Preußen
kaum Anerkennung finden.
Die Eigenschaft einer Großmacht konnten wir uns vor 1866
nur cum grano Salis beimessen, und wir hielten nach dem Krim-
kriege für nöthig, uns um eine äußerliche Anerkennung derselben durch
Antichambriren im Pariser Congresse zu bewerben. Wir bekannten,
daß wir eines Attestes andrer Mächte bedurften, um uns als Groß-
macht zu fühlen. Dem Maßstabe der Gortschakow'schen Redensart
bezüglich Italiens „une grande puissance ne se reconnait pas,
elle se révèele“ fühlten wir uns nicht gewachsen. Die révélation,
daß Preußen eine Großmacht sei, war vorher zu Zeiten in Europa
anerkannt gewesen (ogl. Kapitel 5), aber sie erlitt durch lange
Jahre kleinmüthiger Politik eine Abschwächung, die schließlich
in der kläglichen Rolle, welche Manteuffel in Paris übernahm,
ihren Ausdruck fand. Seine verspätete Zulassung konnte die Wahr-
heit nicht entkräften, daß eine Großmacht zu ihrer Anerkennung vor
allen Dingen der Ueberzeugung und des Muthes, eine solche zu
sein, bedarf. Ich habe es als einen bedauerlichen Mangel an