92 Zweiundzwanzigstes Kapitel: Die Emser Depesche.
trinken wiedergefunden und sprachen in heiterer Laune. Roon
sagte: „Der alte Gott lebt noch und wird uns nicht in Schande
verkommen lassen.“ Moltke trat so weit aus seiner gleichmüthigen
Passivität heraus, daß er sich, mit freudigem Blick gegen die Zimmer-
decke und mit Verzicht auf seine sonstige Gemessenheit in Worten,
mit der Hand vor die Brust schlug und sagte: „Wenn ich das noch
erlebe, in solchem Kriege unfre Heere zu führen, so mag gleich
nachher „die alte Carcasse“ der Teufel holen.“ Er war damals
hinfälliger als später und hatte Zweifel, ob er die Strapazen des
Feldzugs überleben werde.
Wie lebhaft sein Bedürfniß war, seine militärisch-strategische
Neigung und Befähigung praktisch zu bethätigen, habe ich nicht nur
bei dieser Gelegenheit, sondern auch in den Tagen vor dem Aus-
bruche des böhmischen Krieges beobachtet. In beiden Fällen fand
ich meinen militärischen Mitarbeiter im Dienste des Königs ab-
weichend von seiner sonstigen trocknen und schweigsamen Gewohn-
heit heiter, belebt, ich kann sagen, lustig. In der Juninacht 1866,
in der ich ihn zu mir eingeladen hatte, um mich zu vergewissern,
ob der Aufbruch des Heeres nicht um 24 Stunden verfrüht werden
könnte, bejahte er die Frage und war durch die Beschleunigung
des Kampfes angenehm erregt. Indem er elastischen Schrittes
den Salon meiner Frau verließ, wandte er sich an der Thür noch
einmal um und richtete im ernsthaften Tone die Frage an mich:
„Wissen Sie, daß die Sachsen die Dresdner Brücke gesprengt
haben?“ Auf meinen Ausdruck des Erstaunens und Bedauerns
erwiderte er: „Aber mit Wasser, wegen Staub.“ Eine Neigung
zu harmlosen Scherzen kam bei ihm in dienstlichen Beziehungen
wie den unfrigen sehr selten zum Durchbruch. In beiden Fällen
war mir, gegenüber der erklärlichen und berechtigten Abneigung
an maßgebender Stelle, seine Kampflust, seine Schlachtenfreudigkeit
für die Durchführung der von mir für nothwendig erkannten Politik
ein starker Beistand. Unbequem wurde sie mir 1867 in der Luxem-
burger Frage, 1875 und später Angesichts der Erwägung, ob es