Full text: Gedanken und Erinnerungen. Zweiter Band. (2)

Lage vor Paris. Sorge vor der Einmischung der Neutralen. 99 
Unbekanntschaft mit dem Pariser Verpflegungs-Etat nicht über— 
sehn X). Die Belagerung machte territorial keine Fortschritte, mit- 
unter sogar Rückschritte, und die Vorgänge in den Provinzen waren 
nicht mit Sicherheit zu berechnen, namentlich so lange man ohne 
Nachricht war über das Verbleiben der Südarmee und Bourbakis. 
Man wußte eine Zeit lang nicht, ob dieselbe gegen unsre Ver— 
bindungslinie mit Deutschland operire oder auf dem Seewege an 
der untern Seine erscheinen werde. Wir verloren monatlich etwa 
zweitausend Mann vor Paris, gewannen den Belagerten kein Terrain 
ab und verlängerten in unberechenbarer Weise die Periode, während 
welcher unsre Truppen den Wandlungen des Geschickes ausgesetzt 
blieben, die durch unvorhergesehne Unfälle im Kampfe und 
durch Krankheiten, wie die Cholera 1866 vor Wien, eintreten 
konnten. Für mich lagen stärkere Beunruhigungen, die mir die 
Verschleppung der Entscheidung verursachten, auf dem politischen 
Gebiete, in der Besorgniß vor Einmischung der Neutralen. Je 
länger der Kampf dauerte, desto mehr mußte man mit der 
Möglichkeit rechnen, daß die latente Mißgunst und die schwanken- 
den Sympathien eine der übrigen Mächte, in der Beunruhigung 
über unsre Erfolge, zu der Initiative für eine diplomatische 
Einmischung bereit finden lassen würden und diese dann den 
Anschluß andrer oder aller andern herbeiführte. Wenn auch 
zur Zeit der Rundreise des Herrn Thiers im October „Europa 
nicht zu finden war“, so konnte die Entdeckung dieser Potenz 
doch an jedem der neutralen Höfe, sogar auf dem Wege repu- 
blikanischer Sympathien in Amerika, durch den geringsten Anstoß 
herbeigeführt werden, den ein Cabinet dem andern gegeben hätte, 
indem es sondirende Fragen über die Zukunft des europäischen 
Gleichgewichts oder die menschenfreundliche Heuchelei, durch welche 
X) Am 22. September hatte Moltke an seinen Bruder Adolf geschrieben, 
er hege im Stillen die Hoffnung, Ende October in Creisau Hasen zu schießen 
(Moltke, Gesammelte Werke IV 198).
	        
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