Full text: Gedanken und Erinnerungen. Zweiter Band. (2)

110 Dreiundzwanzigstes Kapitel: Versailles. 
wenn unsre Truppen vor Paris, im Westen, Norden und Osten 
Frankreichs vor Seuchen bewahrt blieben. Die Frage, wie der 
Gesundheitszustand des deutschen Heeres sich in den Beschwerden 
eines so ungewöhnlich harten Winters bewähren werde, entzog sich 
jeder Berechnung. Es war unter diesen Umständen keine über— 
triebene Aengstlichkeit, wenn ich in schlaflosen Nächten von der Sorge 
gequält wurde, daß unsre politischen Interessen nach so großen 
Erfolgen durch das zögernde Hinhalten des weitern Vorgehns gegen 
Paris schwer geschädigt werden könnten. Eine weltgeschichtliche Ent- 
scheidung in dem Jahrhunderte alten Kampfe zwischen den beiden 
Nachbarvölkern stand auf dem Spiele und in Gefahr, durch per- 
sönliche und vorwiegend weibliche Einflüsse ohne historische Be- 
rechtigung gefälscht zu werden, durch Einflüsse, die ihre Wirksam- 
keit nicht politischen Erwägungen verdankten, sondern Gemüths- 
eindrücken, welche die Redensarten von Humanität und Civilisation, 
die aus England bei uns importirt werden, auf deutsche Gemüther 
noch immer haben; war uns doch während des Krimkrieges von 
England aus nicht ohne Wirkung auf die Stimmung gepredigt 
worden, daß wir „zur Rettung der Civilisation“ die Waffen für 
die Türken ergreifen müßten. Die entscheidenden Fragen konnten, 
wenn man wollte, als ausschließlich militärische behandelt werden, 
und man konnte das als Vorwand nehmen, um mir das Recht 
der Betheiligung an der Entscheidung zu versagen; sie waren aber 
doch solche, von deren Lösung die diplomatische Möglichkeit in 
letzter Instanz abhing, und wenn der Abschluß des französischen 
Krieges ein weniger günstiger für Deutschland gewesen wäre, so 
blieb auch dieser gewaltige Krieg mit seinen Siegen und seiner 
Begeisterung ohne die Wirkung, die er für unfre nationale Eini- 
gung haben konnte. Es war mir niemals zweifelhaft, daß der 
Herstellung des Deutschen Rciches der Sieg über Frankreich vor- 
hergehn mußte, und wenn es uns nicht gelang, ihn diesmal zum 
vollen Abschluß zu bringen, so waren weitre Kriege ohne vor- 
gängige Sicherstellung unsrer vollen Einigung in Sicht.
	        
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