Full text: Gedanken und Erinnerungen. Zweiter Band. (2)

Die Aera-Artikel. Rohheit des Parteikampfes. 155 
und Grenzen führt, wird unbewußt dadurch verschärft, daß in der 
Politik und in der Religion Keiner dem Andersgläubigen die Richtig— 
keit der eignen Ueberzeugung, des eignen Glaubens concludent 
nachweisen kann, und daß kein Gerichtshof vorhanden ist, der die 
Meinungsverschiedenheiten durch Erkenntniß zur Ruhe verweisen 
könnte. 
In der Politik wie auf dem Gebiete des religiösen Glaubens 
kann der Conservative dem Liberalen, der Royalist dem Republi- 
kaner, der Gläubige dem Ungläubigen niemals ein andres Argu- 
ment entgegenhalten, als das in tausend Variationen der Beredsam- 
keit breitgetretene Thema: meine politischen Ueberzeugungen sind 
richtig und die deinigen falsch; mein Glaube ist Gott wohlgefällig, 
dein Unglaube führt zur Verdammniß. Es ist daher erklärlich, 
daß aus kirchlichen Meinungsverschiedenheiten Religionskriege ent- 
stehn und durch politische Parteikämpfe, so lange nicht ihre Erledi- 
gung durch Bürgerkrieg stattfindet, doch ein Umsturz der Schran- 
ken herbeigeführt wird, die durch Anstand und Ehrgefühl wohl- 
erzogner Leute im außerpolitischen Lebensverkehr aufrecht erhalten 
werden. Welcher gebildete und wohlerzogne Deutsche würde ver- 
suchen, im gewöhnlichen Verkehr auch nur einen geringen Theil 
der Grobheiten und Bosheiten zur Verwendung zu bringen, die 
er nicht ansteht, von der Rednertribüne vor hundert Zeugen seinem 
bürgerlich gleich achtbaren Gegner in einer schreienden, in keiner 
anständigen Gesellschaft üblichen Tonart in's Gesicht zu werfen? 
Wer würde es außerhalb des politischen Parteitreibens mit der 
von ihm selbst beanspruchten Stellung eines Edelmannes von gutem 
Hause verträglich halten, sich in den Gesellschaften, wo er verkehrt, 
gewerbsmäßig zum Colporteur von Lügen und Verleumdungen 
gegen andre Genossen seiner Gesellschaft und seines Standes zu 
machen? Wer würde sich nicht schämen, auf diese Weise un- 
bescholtene Leute unehrlicher Handlungen zu beschuldigen, ohne sie 
beweisen zu können? Kurz, wer würde anderswo als auf dem 
Gebiete politischer Parteikämpfe die Rolle eines gewissenlosen Ver-
	        
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