Schreiben an den König von Baiern. 241
zwischen Rußland und Oestreich eine geheime Verständigung zum
Nachtheile Deutschlands stattgefunden hätte. Diese Besorgniß ist
aber unbegründet; Oestreich fühlt gegenüber der Unruhe der rus-
sischen Politik dasselbe Unbehagen wie wir und scheint zu einer
Verständigung mit uns behufs gemeinsamer Abwehr eines et-
waigen russischen Angriffs auf eine der beiden Mächte geneigt
zu sein.
Ich würde es für eine wesentliche Garantie des europäischen
Friedens und der Sicherheit Deutschlands halten, wenn das Deutsche
Reich auf eine solche Abmachung mit Oestreich einginge, welche
zum Zweck hätte, den Frieden mit Rußland nach wie vor sorg-
fältig zu pflegen, aber wenn trotzdem eine der beiden Mächte an-
gegriffen würde, einander beizustehn. Im Besitze dieser gegen-
seitigen Assecuranz könnten beide Reiche sich nach wie vor der
erneuten Befestigung des Dreikaiserbundes widmen. Das Deutsche
Reich im Bunde mit Oestreich würde der Anlehnung Englands
nicht entbehren und bei der friedfertigen Politik der beiden großen
Reichskörper den Frieden Europas mit zwei Millionen Streitern
verbürgen. Der rein defensive Charakter dieser gegenseitigen An-
lehnung der beiden deutschen Mächte aneinander könnte auch für
niemand etwas Herausforderndes haben, da dieselbe gegenseitige
Assecuranz beider in dem deutschen Bundesverhältniß von 1815
schon 50 Jahre völkerrechtlich bestanden hat.
Unterbleibt jedes Abkommen derart, so wird man es Oest-
reich nicht verargen können, wenn es unter dem Drucke russischer
Drohungen und ohne Gewißheit über Deutschland schließlich ent-
weder bei Frankreich oder bei Rußland selbst nähere Fühlung sucht.
Träte der letztre Fall ein, so wäre Deutschland bei seinem Ver-
Enthebung vorbehalten, bis über den Nachfolger Beschluß gefaßt sei. Der Graf
verstand sich dazu, noch einige Zeit in Function zu bleiben, um das Bündniß
mit Deutschland zu Stande zu bringen. Am 8. October wurde seine Ver-
abschiedung und die Ernennung seines Nachfolgers Haymerle veröffentlicht.
Otto Fürst von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 16