Full text: Gedanken und Erinnerungen. Zweiter Band. (2)

Wahrscheinlicher Grund der Zurückhaltung Rußlands. 261 
Kriegscontribution würde der russische Sieger günstiger stehn als 
der deutsche, aber doch kaum auf seine Kosten kommen. Der Ge— 
danke an den Erwerb Ostpreußens, der im siebenjährigen Kriege 
an das Licht trat, wird schwerlich noch Anhänger haben. Wenn 
Rußland schon den deutschen Bestandtheil der Bevölkerung seiner 
baltischen Provinzen nicht vertragen mag, so ist nicht anzunehmen, 
daß seine Politik auf die Verstärkung dieser für gefährlich ge— 
haltenen Minderheit durch einen so kräftigen Zusatz wie den ost- 
preußischen ausgehn wird. Ebenso wenig erscheint dem russischen 
Staatsmanne eine Vermehrung der polnischen Unterthanen des 
Zaren durch Posen und Westpreußen begehrenswerth. Wenn man 
Deutschland und Rußland isolirt betrachtet, so ist es schwer, auf 
einer von beiden Seiten einen zwingenden oder auch nur berech- 
tigten Kriegsgrund zu finden. Lediglich zur Befriedigung der Rauf- 
lust oder zur Verhütung der Gefahren unbeschäftigter Heere kann 
man vielleicht in einen Balkankrieg gehn; ein deutsch-russischer 
aber wiegt zu schwer, um auf der einen oder andern Seite als 
Mittel nur zur Beschäftigung der Armee und ihrer Offiziere ver- 
wendet zu werden. 
Ich glaube auch nicht, daß Rußland, wenn es fertig ist, ohne 
Weitres Oestreich angreifen würde, und bin noch heut der Mei- 
nung, daß die Truppenaufstellung im russischen Westen auf keine 
direct aggressive Tendenz gegen Deutschland berechnet ist, sondern 
nur auf die Vertheidigung im Falle, daß Rußlands Vorgehn gegen 
die Türkei die westlichen Mächte zur Repression bestimmen sollte. 
Wenn Rußland sich für ausreichend gerüstet halten wird, wozu 
eine angemessene Stärke der Flotte im Schwarzen Meere gehört, 
so wird, denke ich mir, das Petersburger Cabinet, ähnlich wie 
es in dem Vertrage von Hunkiar-Iskelessi 1833 verfahren, dem 
Sultan anbieten, ihm seine Stellung in Konstantinopel und den 
ihm verbliebenen Provinzen zu garantiren, wenn er Rußland den 
Schlüssel zum russischen Hause, d. h. zum Schwarzen Meere, in 
der Gestalt eines russischen Verschlusses des Bosporus gewährt.
	        
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