Full text: Gedanken und Erinnerungen. Zweiter Band. (2)

Sein Streben nach dem Besitze von Konstantinopel. 263 
land, sondern auch gegen seine eignen Unterthanen zu garantiren, 
so würde das ein Angebot sein, in dem eine erhebliche Versuchung 
zur Annahme liegt. Setzen wir aber den Fall, daß der Sultan 
aus eignem oder auf fremden Antrieb die russische Insinuation 
zurückweist, so kann die neue Schwarze-Meer-Flotte die Bestimmung 
haben, auch vor entschiedener Sache sich der Stellung am Bosporus 
zu bemächtigen, deren Rußland zu bedürfen glaubt, um in den 
Besitz seines Hausschlüssels zu gelangen. 
Wie auch diese Phase der von mir vorausgesetzten russischen 
Politik verlaufen mag, so wird aus derselben immer die Situation 
entstehn, daß Rußland wie im Juli 1853 ein Pfand nimmt 
und abwartet, ob man und wer es ihm wieder abnehmen werde. 
Der erste Schritt der russischen Diplomatie nach diesen seit lange 
vorbereiteten Operationen würde vielleicht eine vorsichtige Sondirung 
in Berlin sein, bezüglich der Frage, ob Oestreich oder England, 
wenn sie sich dem russischen Vorgehn kriegerisch widersetzten, auf 
die Unterstützung Deutschlands rechnen könnten. Diese Frage würde 
meiner Ueberzeugung nach unbedingt zu verneinen sein. Ich glaube, 
daß es für Deutschland nützlich sein würde, wenn die Russen auf 
dem einen oder andern Wege, physisch oder diplomatisch, sich in 
Konstantinopel festgesetzt und dasselbe zu vertheidigen hätten. Wir 
würden dann nicht mehr in der Lage sein, von England und 
gelegentlich auch von Oestreich als Hetzhund gegen russische Bos- 
porus-Gelüste ausgebeutet zu werden, sondern abwarten können, ob 
Oestreich angegriffen wird und damit unser casus belli eintritt. 
Auch für die östreichische Politik wäre es richtiger, sich den 
Wirkungen des ungarischen Chauvinismus so lange zu entziehn, 
bis Rußland eine Position am Bosporus eingenommen und dadurch 
seine Frictionen mit den Mittelmeerstaaten, also mit England und 
selbst mit Italien und Frankreich, erheblich verschärft und sein Be- 
dürfniß, sich mit Oestreich à P’amiable zu verständigen, gesteigert 
hätte. Wenn ich östreichischer Minister wäre, so würde ich die 
Russen nicht hindern, nach Konstantinopel zu gehn, aber eine Ver-
	        
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