270 Dreißigstes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands.
vorschwebte, als sie ihrem zweiten Enkel den Namen Constantin
gab, fehlt das placet der Praxis. Befreite Völker sind nicht dank-
bar, sondern anspruchsvoll, und ich denke mir, daß die russische
Politik in der heutigen realistischen Zeit mehr technisch als schwung-
haft vorgehn wird in Behandlung der orientalischen Fragen.
Ihr erstes praktisches Bedürfniß für Kraftentwicklung im Oriente
ist die Sicherstellung des Schwarzen Meeres. Gelingt es, einen
festen Verschluß des Bosporus durch Geschütz= und Torpedoanlagen
zu erreichen, so ist die Südküste Rußlands noch besser geschützt als
die baltische, der die überlegnen englisch-französischen Flotten im
Krimkriege nicht viel anzuhaben vermochten.
Somag die Berechnung des Petersburger Cabinets sich gestalten,
wenn sie als Zielpunkt zunächst den Verschluß des Schwarzen
'eeeres und die Gewinnung des Sultans für diesen Zweck durch
Liebe, durch Geld, durch Gewalt in Aussicht nimmt. Wenn die
Pforte sich der freundschaftlichen Annäherung Rußlands erwehrt
und gegen die angedrohte Gewalt das Schwert zieht, so wird
Rußland wahrscheinlich von andrer Seite angegriffen werden, und
auf diesen Fall sind m. E. die Truppenanhäufungen an der West-
grenze berechnet. Gelingt es, den Verschluß des Bosporus in
Güte zu erreichen, so werden vielleicht die Mächte, die sich da-
durch beeinträchtigt finden, einstweilen stille sitzen, weil eine jede
auf die Initiative der andern und auf die Entschließung Frank-
reichs warten würde. Unfre Interessen sind mehr als die der
andern Mächte mit dem Gravitiren der russischen Macht nach
Süden verträglich; man kann sogar sagen, daß sie dadurch gefördert
werden. Wir können die Lösung eines neuen von Rußland ge-
schürzten Knotens länger als die andern abwarten.