308 Dreiunddreißigstes Kapitel: Kaiser Friedrich III.
Es leuchtet ein, daß eine Aenderung der bisherigen Verhält—
nisse, infolge deren die bisher dem Kanzler zugeschriebene Ver-
antwortlichkeit auf die Anordnungen der kaiserlichen Executiv-Gewalt
beschränkt und ihm die Befugniß, geschweige denn die Verpflichtung,
im Reichstage zu erscheinen und zu discutiren, entzogen würde,
nicht eine nur formelle sein, sondern auch die Schwerkraft der Fac-
toren unsres öffentlichen Lebens wesentlich verändern würde. Ich
habe mir die Frage, ob es sich empföhle, derartigen Eventualitäten
näher zu treten, vorgelegt zu der Zeit, als ich mich im December
1884 einer Reichstagsmehrheit gegenüber fand, die sich aus einer
Coalition der verschiedenartigsten Elemente zusammensetzte, aus der
Socialdemokratie, den Polen, Welfen, Franzosenfreunden aus dem
Elsaß, den freisinnigen Krypto-Republikanern und gelegentlich aus
mißgünstigen Conservativen am Hofe, im Parlamente und in der
Presse — der Coalition, die zum Beispiel die Geldbewilligung für
einen zweiten Director im Auswärtigen Amt ablehnte. Die Unter-
stützung, die ich dieser Opposition gegenüber am Hofe, im Parla-
mente und außerhalb desselben fand, war keine unbedingte, und
nicht frei von der Mitwirkung mißgünstiger und rivalisirender
Streber. Ich habe damals die Frage Jahre hindurch mit wechselnder
Ansicht über ihre Dringlichkeit bei mir und mit Andern erwogen,
ob das Maß nationaler Einheit, welches wir gewonnen hatten, zu
seiner Sicherstellung nicht einer andern Form bedürfe, als der zur
Zeit gültigen, die aus der Vergangenheit überliefert und durch die
Ereignisse und durch Compromisse mit Regirungen und Parla-
menten entwickelt war. Ich habe in jener Zeit, wie ich glaube,
auch in öffentlichen Reden angedeutet, daß der König von Preußen,
wenn ihm der Reichstag die kaiserliche Wirksamkeit über die Grenzen
der Möglichkeit monarchischer Einrichtungen erschwere, sich zu einer
stärkern Anlehnung an die Unterlagen veranlaßt sehn könne, welche
die preußische Krone und Verfassung ihm gewähre 1). Ich hatte bei
1) Vgl. Pol. Reden XI 468.