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52 Einundzwanzigstes Kapitel: Der Norddeutsche Bund.
Glieder sich dann des französischen Schutzes um so bedürftiger
fühlen würden. Er hatte Rheinbundreminiscenzen und wollte die
Entwicklung in der Richtung eines Gesammt-Deutschlands hindern.
Er glaubte es zu können, weil er die nationale Stimmung des
Tages nicht kannte und die Situation nach seinen süddeutschen
Schulerinnerungen und nach diplomatischen Berichten beurtheilte,
die nur auf ministerielle und sporadisch dynastische Stimmungen
gegründet waren. Ich war überzeugt, daß ihr Gewicht schwinden
würde; ich nahm an, daß ein Gesammt-Deutschland nur eine Frage
der Zeit, und daß zu deren Lösung der Norddeutsche Bund die erste
Etappe sei, daß aber die Feindschaft Frankreichs und vielleicht Ruß—
lands, das Revanchebedürfniß Oestreichs für 1866 und der preußisch-
dynastische Particularismus des Königs nicht zu früh in die Schranken
gerufen werden dürfe. Ich war nicht zweifelhaft, daß ein deutsch-
französischer Krieg werde geführt werden müssen, bevor die Gesammt-
Einrichtung Deutschlands sich verwirklichte. Diesen Krieg hinauszu-
schieben, bis unfre Streitkräfte durch Anwendung der preußischen
Wehrgesetzgebung nicht blos auf Hanover, Hessen und Holstein, son-
dern, wie ich damals schon nach der Fühlung mit den Süddeutschen
hoffen durfte, auch auf diese, gestärkt wären, war ein Gedanke, der
mich damals beherrschte. Ich hielt einen Krieg mit Frankreich im
Hinblick auf die Erfolge der Franzosen im Krimkriege und in Italien
für eine Gefahr, die ich damals überschätzte, indem mir die für Frank-
reich erreichbare Truppenziffer, die Ordnung und die Organisation
und das Geschick in der Führung als höher und besser vorschwebten,
als sich 1870 bestätigt hat. Die Tapferkeit des französischen Troupiers
und die Höhe des nationalen Gefühls und der verletzten Eitelkeit
haben sich vollkommen in dem Maße bewährt, wie ich sie für die Even-
tualität einer deutschen Invasion in Frankreich eingeschätzt hatte, in
Erinnerung an die Erlebnisse von 1814, 1792, und zu Anfang des
vorigen Jahrhunderts im spanischen Erbfolgekriege, wo das Ein-
dringen fremder Heere stets ähnliche Erscheinungen wie das Stö-
kern in einem Ameisenhaufen hervorgerufen hat. Für leicht habe