Full text: Gedanken und Erinnerungen. Neue Ausgabe. Erster Band. (1)

Antideutsche Stimmung d. jüngern Generation. Fürst Gortschakow. 255 
  
irae 1). Sobald ich selbständig als Deutscher oder Preuße oder 
als Rival im europäischen Ansehn und in der geschichtlichen 
Publicistik aufzutreten begann, verwandelte sich sein Wohlwollen 
in Mißgunst. 
Ob diese Wandlung erst nach 1870 begann oder ob sie sich 
vor diesem Jahre meiner Wahrnehmung entzogen hatte, lasse 
ich dahingestellt. Wenn Erstres der Fall war, so kann ich als 
ein achtbares und für einen russischen Kanzler berechtigtes 
Motiv den Irrthum der Berechnung in Anschlag bringen, daß 
die Entfremdung zwischen uns und Oestreich auch nach 1866 
dauernd fortbestehn werde. Wir haben 1870 der russischen 
Politik bereitwillig beigestanden, um sie im Schwarzen Meere 
von den Beschränkungen zu lösen, welche der Pariser Vertrag 
ihr auferlegt hatte ). Dieselben waren unnatürlich, und das 
Verbot der freien Bewegung an der eignen Meeresküste war 
für eine Macht wie Rußland auf die Dauer unerträglich, weil 
demüthigend. Außerdem lag und liegt es nicht in unserm 
Interesse, Rußland in der Verwendung seiner überschüssigen 
Kräfte nach Osten hin hinderlich zu sein; wir sollen froh sein, 
wenn wir in unfrer Lage und geschichtlichen Entwicklung in 
Europa Mächte finden, mit denen wir auf keine Art von Con- 
currenz der politischen Interessen angewiesen sind, wie das 
zwischen uns und Rußland bisher der Fall ist. Mit Frank- 
reich werden wir nie Frieden haben, mit Rußland nie die 
Nothwendigkeit des Krieges, wenn nicht liberale Dummheiten 
oder dynastische Mißgriffe die Situation fälschen. 
2. 
Wenn ich in Petersburg auf einem der kaiserlichen Schlösser 
Zarskoe oder Peterhof anwesend war, auch nur, um mit dem 
1) Vgl. Juvenal, Satiren I 168: Inde irae et lacrumae (daher der 
Zorn und die Thränen) und Terenz, Andria I 1: Hinc illae irae (daher 
der Zorn). 
:) Vgl. Bd. II 118.
	        
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