258 Zehntes Kapitel: Petersburg.
Von einer andern russischen Eigenthümlichkeit gab es bei
meiner ersten Anwesenheit in Petersburg 1859 eine Probe.
In den ersten Tagen des Frühlings machte damals die zum
Hofe gehörige Welt ihren Spaziergang in dem Sommergarten
zwischen dem Pauls-Palais und der Newa. Dort war es dem
Kaiser aufgefallen, daß in der Mitte eines Rasenplatzes ein
Posten stand. Da der Soldat auf die Frage, weshalb er da
stehe, nur die Auskunft zu geben wußte: „Es ist befohlen“,
so ließ sich der Kaiser durch seinen Adjutanten auf der Wache
erkundigen, erhielt aber auch keine andre Aufklärung, als daß
der Posten Winter und Sommer gegeben werde. Der ur-
sprüngliche Befehl sei nicht mehr zu ermitteln. Die Sache
wurde bei Hofe zum Tagesgespräch und gelangte auch zur
Kenntniß der Dienerschaft. Aus dieser meldete sich ein alter
Pensionär und gab an, daß sein Vater ihm gelegentlich im
Sommergarten gesagt habe, während sie an der Schildwache
vorbeigegangen: „Da steht er noch immer und bewacht die
Blume; die Kaiserin Katharina hat an der Stelle einmal un-
gewöhnlich früh im Jahre ein Schneeglöckchen wahrgenommen
und befohlen, man solle sorgen, daß es nicht abgepflückt werde.“
Dieser Befehl war durch Aufstellung einer Schildwache zur
Ausführung gebracht worden, und seitdem hatte der Posten
Jahr aus Jahr ein gestanden. Dergleichen erregt unfre Kritik
und Heiterkeit, ist aber ein Ausdruck der elementaren Kraft
und Beharrlichkeit, auf denen die Stärke des russischen Wesens
dem übrigen Europa gegenüber beruht. Man erinnert sich
dabei der Schildwachen, die während der Ueberschwemmung in
Petersburg 18251/), im Schipka-Passe 1877 nicht abgelöst
wurden und von denen die Einen ertranken, die Andern auf
ihren Posten erfroren.
1) Die Ueberschwemmung Petersburgs fand am 19. November 1821
statt.