112 Dreiundzwanzigstes Kapitel: Versailles.
Systeme der Aushungerung. Die Zeit, die das letztre in An-
spruch nehmen würde, ließ sich bei der Unbekanntschaft mit dem
Pariser Verpflegungs-Etat nicht übersehn se). Die Belagerung
machte territorial keine Fortschritte, mitunter sogar Rückschritte,
und die Vorgänge in den Provinzen waren nicht mit Sicher-
heit zu berechnen, namentlich so lange man ohne Nachricht war
über das Verbleiben der Südarmee und Bourbaki's. Man
wußte eine Zeit lang nicht, ob dieselbe gegen unfre Verbindungs-
linie mit Deutschland operire oder auf dem Seewege an der
untern Seine erscheinen werde. Wir verloren monatlich etwa
zweitausend Mann vor Paris, gewannen den Belagerten kein
Terrain ab und verlängerten in unberechenbarer Weise die
Periode, während welcher unfre Truppen den Wandlungen des
Geschicks ausgesetzt blieben, die durch unvorhergesehne Unfälle
im Kampfe und durch Krankheiten, wie die Cholera 1866 vor
Wien, eintreten konnten. Für mich lagen stärkre Beunruhi-
gungen, die mir die Verschleppung der Entscheidung verur-
sachten, auf dem politischen Gebiete, in der Besorgniß vor Ein-
mischung der Neutralen. Je länger der Kampf dauerte, desto
mehr mußte man mit der Möglichkeit rechnen, daß die latente
Mißgunst und die schwankenden Sympathien eine der übrigen
Mächte in der Beunruhigung über unfre Erfolge zu der Ini-
tiative für eine diplomatische Einmischung bereit finden lassen
würden und diese dann den Anschluß andrer oder aller andern
herbeiführte. Wenn auch zur Zeit der Rundreise des Herrn
Thiers im October „Europa nicht zu finden war“ ), so konnte
die Entdeckung dieser Potenz doch an jedem der neutralen Höfe,
sogar auf dem Wege republikanischer Sympathien in Amerika,
durch den geringsten Anstoß herbeigeführt werden, den ein
&)Am 22. September hatte Moltke an seinen Bruder Adolf ge-
schrieben, er hege im Stillen die Hoffnung, Ende October in Creisau
Hasen zu schießen (Moltke, Gesammelte Schriften IV 198).
1) Worte aus Beust's Depesche vom 12. Oct. 1870, s. u. S. 113 Anm. 2.