178 Fünfundzwanzigstes Kapitel: Bruch mit den Conservativen.
5.
Jeder, der heutiger Zeit in politischen Kämpfen gestanden
hat, wird die Wahrnehmung gemacht haben, daß Parteimänner,
über deren Wohlerzogenheit und Rechtlichkeit im Privatleben
nie Zweifel aufgekommen sind, sobald sie in Kämpfe der Art
gerathen, sich von den Regeln des Ehrgefühls und der Schick-
lichkeit, deren Autorität sie sonst anerkennen, für entbunden
halten und aus einer karikirenden Uebertreibung des Satzes
salus publica suprema lex) die Rechtsertigung für Gemein-
heiten und Rohheiten in Sprache und Handlungen ableiten,
durch die sie sich außerhalb der politischen und religiösen Streitig-
keiten selbst angewidert fühlen würden. Diese Lossagung von
Allem, was schicklich und ehrlich ist, hängt undeutlich mit dem
Gesühle zusammen, daß man im Interesse der Partei, das
man dem des Vaterlands unterschiebt, mit anderm Maße zu
messen habe als im Privatleben und daß die Gebote der Ehre
und Erziehung in Parteikämpfen anders und loser auszulegen
seien als selbst im Kriegsgebrauch gegen ausländische Feinde.
Die Reizbarkeit, die zur Ueberschreitung der sonst üblichen
Formen und Grenzen führt, wird unbewußt dadurch verschärft,
daß in der Politik und in der Religion Keiner dem Anders-
gläubigen die Richtigkeit der eignen Ueberzeugung, des eignen
Glaubens concludent nachweisen kann?) und daß kein Gerichts-
hof vorhanden ist, der die Meinungsverschiedenheiten durch Er-
kenntniß zur Ruhe verweisen könnte.
In der Politik wie auf dem Gebiete des religiösen Glaubens
kann der Conservative dem Liberalen, der Royalist dem Repu-
blikaner, der Gläubige dem Ungläubigen niemals ein andres
Argument entgegenhalten als das in tausend Variationen der
1) Das öffentliche Wohl (sei) höchstes Gesetz, Citat aus Cicero, de
legibus III 3, 8.
2) S. o. S. 24 und u. S. 183.