Das Aufreibende des staatsmänmischen Berufs. Parteitreiben. 183
interesse mich zu verbrauchen, fallen zu lassen und anzugreifen.
Die Frage, ob es dem Lande, dem allgemeinen Interesse nütz-
lich sei, wird theoretisch natürlich von jeder Fraction als die
dominirende bezeichnet, und jede behauptet, daß sie eben auf
dem Fractionswege das Wohl der Gesammtheit suche und finde.
In der That aber ist mir der Eindruck verblieben, daß jede
unsrer Fractionen ihre Politik betreibt, als ob sie allein da
sei, ohne Rücksicht auf das Ganze und auf das Ausland sich
auf ihrer Fractionsinsel isolirt. Dabei kann man nicht einmal
sagen, daß die verschiednen Wege der Fractionen auf dem
politischen Kampfplatz durch Verschiedenheit der politischen
Grundsätze und Ueberzeugungen in jedem Einzelnen zu einer
Gewissensfrage und Nothwendigkeit würden; es geht den meisten
Fractionsmitgliedern wie den meisten Bekennern verschiedner
Confessionen; sie gerathen in Verlegenheit, wenn man sie bittet,
die unterscheidenden Merkmale der eignen Ueberzeugung den
andern concurrirenden gegenüber anzuführen 1). In unsern
Fractionen ist der eigentliche Krystallisationspunkt nicht ein
Programm, sondern eine Person, ein parlamentarischer Con-
dottiere.
Auch die Beschlüsse entspringen nicht aus den Ansichten der
Mitglieder, sondern aus dem Willen des Führers oder eines
hervorragenden Redners, was in der Regel zusammenfällt.
Der Versuch einzelner Mitglieder, gegen die Fractionsleitung,
gegen den schlagfertigen Redner aufzukommen, ist mit so viel
Unannehmlichkeiten, mit Niederlage in der Abstimmung, mit
Störungen in dem täglichen, gewohnten Privatverkehr ver-
bunden, daß schon ein recht selbständiger Charakter dazu gehört,
eine von der Fractionsleitung abweichende Meinung zu ver-
treten; und Charakter genügt nicht, wenn nicht ein ausreichendes
Maß von Wissen und Arbeitskraft hinzukommt. Die letztre
1) S. o. S. 24 und 178.