Katholische Hofströmungen, gestützt von der Kaiserin. Gérard. 197
Altersgenossen, des nachmaligen Bundestagsgesandten und Mit-
begründers des Centrums. In der Zeit, als wir beide Primaner
oder Studenten waren, sprach er ohne polemische Färbung über
die Motive der getroffnen Wahl und führte dabei die impo-
nirende Würde des katholischen Gottesdienstes, dann aber auch
den Grund an, katholisch sei doch im Ganzen vornehmer, „prote-
stantisch ist ja jeder dumme Junge“.
Diese Verhältnisse und Stimmungen haben sich geändert in
dem halben Jahrhundert, in dem die politische und wirthschaft-
liche Entwicklung alle Varietäten der Bevölkerung nicht blos
Europas mit einander in nähere Berührung gebracht hat. Heut
zu Tage kann man durch die Kundgebung, katholisch zu sein,
in keinem Berliner Kreise mehr Aufsehn erregen oder auch nur
einen Eindruck machen. Nur die Kaiserin Augusta ist von ihren
Jugendeindrücken nicht frei geworden. Ein katholischer Geist-
licher erschien ihr vornehmer als ein evangelischer von gleichem
Range und von gleicher Bedeutung. Die Aufgabe, einen Fran-
zosen oder Engländer zu gewinnen, hatte für sie mehr An-
ziehung als dieselbe Aufgabe einem Landsmanne gegenüber,
und der Beifall der Katholiken wirkte befriedigender als der
der Glaubensgenossen. Gontaut-Biron, dazu aus vornehmer
Familie, hatte keine Schwierigkeit, sich in den Hofkreisen eine
Stellung zu schaffen, deren Verbindungen auf mehr als einem
Wege an die Person des Kaisers heranreichten.
Daß die Kaiserin in der Person Gérards einen französischen
geheimen Agenten zu ihrem Vorleser nahm, ist eine Abnormität,
deren Möglichkeit ohne das Vertraun, welches Gontaut durch
seine Geschicklichkeit und durch die Mitwirkung eines Theils der
katholischen Umgebung Ihrer Majestät genoß, nicht verständlich
ist. Für die französische Politik und die Stellung des franzö-
sischen Botschafters in Berlin war es natürlich ein erheblicher
Vortheil, einen Mann wie Gérard in dem kaiserlichen Haus-
halte zu sehn. Derselbe war gewandt bis auf die Unfähig-