300 Dreißigstes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands.
und in Rechnung auf französischen Beistand uns anzugreifen.
Der deutsche Krieg bietet für Rußland ebenso wenig unmittel-
bare Vortheile, wie der russische für Deutschland, höchstens im
Betrage der Kriegscontribution würde der russische Sieger
günstiger stehn als der deutsche, aber doch kaum auf seine
Kosten kommen. Der Gedanke an den Erwerb Ostpreußens,
der im siebenjährigen Kriege an das Licht trat, wird schwerlich
noch Anhänger haben. Wenn Rußland schon den deutschen
Bestandtheil der Bevölkerung seiner baltischen Provinzen nicht
vertragen mag, so ist nicht anzunehmen, daß seine Politik auf
die Verstärkung dieser für gefährlich gehaltnen Minderheit
durch einen so kräftigen Zusatz wie den ostpreußischen ausgehn
wird. Ebenso wenig erscheint dem russischen Staatsmanne
eine Vermehrung der polnischen Unterthanen des Zaren durch
Posen und Westpreußen begehrenswerth. Wenn man Deutsch-
land und Rußland isolirt betrachtet, so ist es schwer, auf einer
von beiden Seiten einen zwingenden oder auch nur berechtigten
Kriegsgrund zu finden. Lediglich zur Befriedigung der Rauf-
lust oder zur Verhütung der Gefahren unbeschäftigter Heere
kann man vielleicht in einen Balkankrieg gehn; ein deutsch-
russischer aber wiegt zu schwer, um auf der einen oder andern
Seite als Mittel nur zur Beschäftigung der Armee und ihrer
Offiziere verwendet zu werden.
Ich glaube auch nicht, daß Rußland, wenn es fertig ist,
ohne Weitres Oestreich angreifen würde, und bin noch heut
der Meinung, daß die Truppenausstellung im russischen Westen
auf keine direct aggressive Tendenz gegen Deutschland berechnet
ist, sondern nur auf die Vertheidigung im Falle, daß Ruß-
lands Vorgehn gegen die Türkei die westlichen Mächte zur
Repression bestimmen sollte. Wenn Rußland sich für aus-
reichend gerüstet halten wird, wozu eine angemessene Stärke
der Flotte im Schwarzen Meere gehört, so wird, denke ich mir,
das Petersburger Cabinet, ähnlich wie es in dem Vertrage