Full text: Gedanken und Erinnerungen. Neue Ausgabe. Zweiter Band. (2)

Wahrscheinliche Entwicklung der Bosporusfrage. 303 
  
Bosporus-Gelüste ausgebeutet zu werden, sondern abwarten 
können, ob Oestreich angegriffen wird und damit unser casus 
belli ) eintritt. 
Luch für die östreichische Politik wäre es richtiger, sich den 
Wirkungen des ungarischen Chauvinismus so lange zu ent- 
ziehn, bis Rußland eine Position am Bosporus eingenommen 
und dadurch seine Frictionen mit den Mittelmeerstaaten, also 
mit England und selbst mit Italien und Frankreich, erheblich 
verschärft und sein Bedürfniß, sich mit Oestreich à P’amiable?) 
zu verständigen, gesteigert hätte. Wenn ich östreichischer Minister 
wäre, so würde ich die Russen nicht hindern, nach Constantinopel 
zu gehn, aber eine Verständigung mit ihnen erst beginnen, 
nachdem sie den Vorstoß gemacht hätten. Die Betheiligung 
Oestreichs an der türkischen Erbschaft wird doch nur im Ein- 
verständnisse mit Rußland geregelt werden und der östreichische 
Antheil um so größer ausfallen, je mehr man in Wien zu 
warten und die russische Politik zu ermuthigen weiß, eine 
weiter vorgeschobene Stellung einzunehmen. England gegen- 
über mag die Position des heutigen Rußland als verbessert 
gelten, wenn es Constantinopel beherrscht, Oestreich und Deutsch- 
land gegenüber ist sie weniger gefährlich, so lange es in Con- 
stantinopel steht. Es würde dann die preußische Ungeschicklichkeit 
nicht mehr möglich sein, uns wie 1855 für Oestreich, England, 
Frankreich auszuspielen und einzusetzen, um uns in Paris eine 
demüthigende Zulassung zum Congreß und eine mention hono- 
rable :) als europäische Macht zu verdienen. 
Wenn man die Sondirung, ob Rußland, wenn es wegen 
seines Vorgreisfens nach dem Bosporus von andern Mächten 
angegriffen wird, auf unfre Neutralität rechnen könne, so lange 
Oestreich nicht gefährdet werde, in Berlin verneinend oder gar 
1) Kriegsfall. 
2:) Freundschaftlich. 
„:) Ehrenvolle Erwähnung.
	        
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