Aufgabe der östreichischen u. deutschen Politik gegenüber Rußland. 305
gestellt, dem selbst Friedrich der Große nicht genügen würde,
obschon die Politik in Krieg und Frieden zu seiner Zeit weniger
schwierig war wie heut.
Unser Ansehn und unsre Sicherheit werden sich um so nach-
haltiger entwickeln, je mehr wir uns bei Streitigkeiten, die
uns nicht unmittelbar berühren, in der Reserve halten und un-
empfindlich werden gegen jeden Versuch, unfre Eitelkeit zu
reizen und auszubeuten, Versuche, wie sie während des Krim-
kriegs von der englischen Presse und dem englischen Hofe und
den auf England gestützten Strebern an unserm eignen Hofe
gemacht wurden, indem man uns mit der Entziehung der
Titulatur einer Großmacht so erfolgreich bedrohte, daß Herr
von Manteuffel uns in Paris großen Demüthigungen aussetzte,
um zur Mitunterschrift eines Vertrags zugelassen zu werden,
an den nicht gebunden zu sein uns nützlich gewesen sein würde.
Deutschland würde auch heut eine große Thorheit begehn, wenn
es in orientalischen Streitfragen ohne eignes Interesse früher
Partei nehmen wollte als die andern, mehr interessirten Mächte.
Wie das schwächere Preußen schon während des Krimkriegs
Momente hatte, in denen es bei entschlossener Rüstung im
Sinne östreichischer Forderungen und über dieselben hinaus den
Frieden gebieten und sein Verständniß mit Oestreich über deutsche
Fragen fördern konnte, so wird auch Deutschland in zukünftigen
orientalischen Händeln, wenn es sich zurückzuhalten weiß, den
Vortheil, daß es die in orientalischen Fragen am wenigsten
interessirte Macht ist, um so sichrer verwerthen können, je
länger es seinen Einsatz zurückhält, auch wenn dieser Vortheil
nur in längerm Genusse des Friedens bestände. Oestreich,
England, Italien werden einem russischen Vorstoße auf Con-
stantinopel gegenüber immer früher Stellung zu nehmen haben
als die Franzosen, weil die orientalischen Interessen Frankreichs
1) S. Bd. I 316 f.
Otto Fürst von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 20