306 Dreißigstes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands.
weniger zwingend und mehr im Zusammenhange mit der deut-
schen Grenzfrage zu denken sind. Frankreich würde in russisch-
orientalischen Krisen weder auf eine neue „westmächtliche"
Politik, noch um seiner Freundschaft mit Rußland willen auf
eine Bedrohung Englands sich einlassen können, ohne vorgängige
Verständigung oder vorgängigen Bruch mit Deutschland.
Dem Vortheile, den der deutschen Politik ihre Freiheit von
directen orientalischen Interessen gewährt, steht der Nachtheil
der centralen und exponirten Lage des Deutschen Reichs mit
seinen ausgedehnten Vertheidigungsfronten nach allen Seiten
hin und die Leichtigkeit antideutscher Coalitionen gegenüber.
Dabei ist Deutschland vielleicht die einzige große Macht in
Europa, die durch keine Ziele, die nur durch siegreiche Kriege
zu erreichen wären, in Versuchung geführt wird. Unser Inter-
esse ist, den Frieden zu erhalten, während unfre continentalen
Nachbarn ohne Ausnahme Wünsche haben, geheime oder amt-
lich bekannte, die nur durch Krieg zu erfüllen sind. Dement-
sprechend müssen wir unfre Politik einrichten, das heißt den
Krieg nach Möglichkeit hindern oder einschränken, uns in dem
europäischen Kartenspiele die Hinterhand wahren und uns durch
keine Ungeduld, keine Gefälligkeit auf Kosten des Landes, keine
Eitelkeit oder befreundete Provocation vor der Zeit aus dem
abwartenden Stadium in das handelnde drängen lassen; wenn
nicht, plectuntur Achivi .
Unsfre Zurückhaltung kann vernünftiger Weise nicht den
Zweck haben, über irgend einen unfrer Nachbarn oder mög-
lichen Gegner mit geschonten Kräften herzusallen, nachdem die
andern sich geschwächt hätten. Im Gegentheil sollten wir uns
bemühn, die Verstimmungen, die unser Heranwachsen zu einer
wirklichen Großmacht hervorgerufen hat, durch den ehrlichen
und friedliebenden Gebrauch unfrer Schwerkraft abzuschwächen,
1) So haben es die Achäer (d. h. das Volk) zu büßen, Citat aus
Horaz, Episteln 1 2, 14.