Full text: Das Deutsche Reich zur Zeit Bismarcks.

148 I, 9. Der innere Ausbau des Reiches. Die deulsche Rechtseinheil. (1872 — 78.) 
zugesagt. Da jedoch der Abschluß dieser Vorlage im Bundesrate von Session zu Session 
sich verzögerte, und zwar trotz der Zusicherungen Delbrücks (vom 25. Oktober 1871 
und 22. April 1872), daß das Preßgesetz dem Reichstag „bei seiner nächsten Tagung 
bestimmt werde vorgelegt werden“, so brachten am 19. März 1873 achtzig Abgeord- 
nete der nationalliberalen, JFortschritts= und liberalen Reichspartei den selbständigen 
Entwurf eines Preßgesetzes ein, welcher aus den Vorschlägen und dem Bericht des 
Prosessors Dr. Karl Biedermann bei den Beratungen des 6. und 7. deutschen Journa- 
listentages hervorgegangen war. Auch erstattete Biedermann im Reichstag Bericht 
über diesen Entwurf. Da inzwischen jedoch der preußische Entwurf fertiggestellt war, 
so ersuchte Bismarck am 29. Mai 1873 den Reichstag, zum Zwecke gegenseitiger Ver- 
ständigung mit der Beratung des Biedermannschen Eutwurfes einzuhalten. Daraus 
ging der Reichstag mit großer Mehrheit ein und bewilligte später auch eine Vertagung 
der Beratung bis 1874, wogegen die Regierung, wie früher berichtet wurde, ihrerseite 
auf Durchberatung der Militärvorlage im Jahre 1873 verzichtete. 
Am 11. Februar 1874 legte nun die Negierung einen Gesetzentwurf vor, welcher 
in rühmlich unbefangener Weise eine Fülle wertvoller, in dem vorjährigen, von Vieder- 
mann erstatteten Ausschußbericht des Reichstags niedergelegter Erfahrungen und Er- 
wägungen berücksichtigt hatte. Dies gestand der Nedner und Vertreter des Bundes- 
rates, der sächsische Geheime Iustizrat Held, vor dem Reichstag bei der ersten Lesung 
am 20. Februar 1874 selbst ein und fügte hinzu: wenn die verbündeten Negierungen 
auch nicht allenthalben zu denselben Ergebnissen gelangt seien, so lasse sich doch der 
Einfluß unschwer erkennen, welchen jener Bericht auf die Gestaltung des vorliegenden 
Entwurfes ausgeübt habe. In der That hatte der Negierungsentwurf sich die libe- 
rale Hauptforderung des vorjährigen Preßgesetzausschusses des Neichstags angeeignet, 
die Grundlage des „Nepressivverfahrens“, nicht mehr des Präventivverfahrens, mit 
welchem die Presse bis dahin in den meisten deutschen Staaten bedroht war. Das 
Gesetz stellte mit anderen Worten als obersten Grundsatz im § 1 auf: „Die Freiheit 
der Presse unterliegt nur denjenigen Beschränkungen, welche durch das gegenwärtige 
Gesetz vorgeschrieben oder zugelassen sind.“ Und diese Beschränkungen waren nur ge- 
trosfen, „um gegen begangene (nicht gegen möglicherweise erst noch zu begehende) 
Preßverbrechen und -Vergehen eine wirksame Anwendung der Strasgesetze zu sichern“. 
n die beiden unduldsamsten Parteien des Hauses, welche, wenn sie am Ruder wären, 
am liebsten jedes gedruckte Wort einer Zensur unterwerfen möchten, die Ultramon- 
tanen und Sozialdemokraten, erklärten diesen Regierungsentwurf in der ersten Lesung 
für umannehmbar, als „ein Hemmnis für die Kulturaufgaben der Presse“. 
Der Reichstag verwies am 20. Februar 1874 den Entwurf zur Durchberatung 
an einen Ausschuß von 14 Mitgliedern. Dieser Ausschuß änderte das Gesetz in libe- 
ralem Sinne noch wesentlich ab und fand zu seinen Vorschlägen in der zweiten Lesung 
am 16. März die Zustimmung des Reichstags. Sehr viel zweifelhafter war die Zu- 
stimmung der Bundesregierungen. Diese zu erlangen, waren nach der zweiten Lesung 
hauptsächlich bemüht der nationalliberale Berichterstatter der Reichstagskommission, 
Abgeordneter Professor Dr. Marquardsen aus Erlangen, und die Abgeordneten Forcade
	        
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