Full text: Das Deutsche Reich zur Zeit Bismarcks.

174 1, 10. Der innere Ausbau des Reiches. Vollswirtichaftl. Entwickelung u. Gesetzgedung. 
Der Minister, welcher durch seine geniale, zielbewusßie und thatkräflige Leitung des Bun- 
des= und Reichskanzleramtes seit 9 Jahren Bismarcks beste und treueste Stütze gewesen 
war, forderte jetzt seinen Nücktritt „aus Gesundheitsrücksichten“. Sicher ist, daß keine 
ummittelbare persönliche Meinungsverschiedenheit, noch weniger persönlicher Zwist die 
beiden großen Staatsmänner voneinander trennte. Fürst Bismarck mochte sogar an das 
Nuhebedürfnis und die körperliche Erschöpfung des treuen Mitarbeiters selbst glauben 
und diesen Beweggrund daher unter den übrigen jenes Nücktrittes für ausschlaggebend 
halten. Denn Bismarck sagte im preußischen Abgeordnetenhause am 26. April 1876: 
„Zwischen Delbrück und Gr. Maiestät dem Kaiser, zwischen ihm und mir ist auch nicht der 
Schallen einer Meinungsverschiedenheit über irgend eine der schwebenden Fragen zu Tage ge- 
treten. Ich habe mit ihm 25 Jahre lang gemeinschaftlich gearbeitet und 10 Jahre lang in kolle- 
gialischen Verhältuissen; wir standen in solchen Beziehungen, daß er wuße, jede, auch die beden- 
lendste Frage wäre von mir eher vertagl worden, als daß ich sie zum Anlaß seines Rücktrit# 
werden ließ; darüber war er vollständig klar.“ Aber Delbrück halte, wie Bismarck von ihm 
rühmte: „mit der ungewöhnlichsten Arbeitskrast, man kann sagen, mit der mehrerer begabter 
Männer ausgerüstet, bei dem Ubermast von Arbeit, das er 10 Jahre auf sich genommen hat, 
auch die solideste und elastischste Arbeitskraft verbraucht“. 
Demnoch wollten die Zeitgenossen nicht daran glauben, daß dieser nimmermüde 
Ministler die rastlosen Hände nur „aus Gesundheitsrücksichten“ in den Schoß gelegt 
habe. Als Geheimrat Michaelis ihm einst 1869 klagte, er könne unmöglich (wie 
Delbrück verlangt hatte) die Motive zur norddeutschen Gewerbeordnung binnen 
14 Tagen sertigstellen, trotzdem er daran von früh 8 Uhr bis Mitternacht arbeite, 
da hatte Delbrück vorwurfsvoll erwidert: „Ja, was fangen Sie denn dann mit Ihren 
schönen Morgenstunden an?“ Michaelis hat das dem Verfasser selbst erzählt, und Del- 
brück stellte keine Ansorderung an einen seiner Mitarbeiter, die er nicht selbst sich auf- 
erlegte. Wir wissen heute, daß die Zeitgenossen mit ihren Zweifeln recht hatten. Wir 
verdanken die klarsten Einblicke in die innersten Beweggründe zu Delbrücks Rücktritt 
dem bedentenden Buche von Poschinger: „Fürst Bismarck als Volkswirt“, das sich 
auf eine Fülle bis dahin ungedruckter Urkunden der Archive 2c. stützt, und sassen die 
Ergebnisse dieser Forschungen kurz zusammen. 
Delbrück hatte als Leiter des Bundeskanzleramtes die umsassendste, freieste Voll- 
macht (plein ponvoir), sowohl den Bundesregierungen als den prenßischen Minister- 
kollegen gegenüber. Er war durch keinerlei schristliche Instruktionen Bismarcks ge- 
bunden. Die Eingänge gelangten an Delbrück, und nur, wenn sie von besonderer 
grundsätzlicher Bedeutung waren, legte Delbrück sie Bismarck vor, erstaltele darüber 
mündlich Vortrag, wie über Eingaben, die an Bismarck direkt gelangt waren, und 
über welche Bismarck Delbrücks Vortrag zu erhalten wünschte. Aus den Neden Bis- 
marcks im Abgeordnetenhause und Reichstag von 1873—81 erhellt weiler, daß 
Bismarck, solange Delbrück im Amte war, sich dessen ausgczeichneter Einsicht in 
allen wirtschaftlichen Fragen unterwarf, auch wenn der Reichskanzler nicht der Au- 
sicht seines bedenutendsten Mitarbeiters war. 
So sagte der Fürst im Abgeordnelenhause am 25. Jannar 1873: der Kollege Delbrück sei 
im Vesitze seines „vollsten Verlrauens“, besinde sich mit ihm „im vollsten Einverständnis“. Er
	        
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