Delbrücks Rücktrut. Sozialpolinscher Umschwung. 177
Frage, die ruhmreiche Stellung mit Ehren verlassen oder in heißen Kämpfen mit dem
Kanzler und dem Parlament noch kurze Zeit im Amte bleiben, um dann, sicherlich
nicht ohne geschwächtes Ansehen, der Macht der Verhältnisse doch weichen zu müssen.
Als weitblickender Mann wöählte Delbrück das erstere.“
Aucheauf sozialpolitischem Gebiete begann sich ein Umschwung der Mei-
mungen zu vollziehen. Die von den Schutzzöllnern und Agrariern so arg geschmähte
„liberale“ Wirtschaftsgesetzgebung des Norddeutschen Bundes von 1867—70 war
durch die Fülle von Freiheit, welche sie dem Arbeiter gewährte, zugleich eine hervor-
ragend sozialpolitische und arbeiterfreumdliche gewesen. Durch das Freizügigkeitsgesetz
und die Aufhebung des Paßzwangs, durch Beseitigung der Schuldhaft und der Dienst-
lohnbeschlagnahme, durch die Gewerbefreiheit und die in der Gewerbeordnung ent-
haltene Koalitionsfreiheit, durch das einheitliche deutsche Heimatsrecht und die Ver-
ehelichungsfreiheit hatten die arbeitenden Klassen in ganz Demschland eine so sichere
Grimdlage für die freie Verwertung ihrer Arbeitskraft gewonnen, wie in irgend einem
Lande der Kulturwelt. Solange der günstige Nückschlag des großen nationalen Krieges
sich in der Vermichtung des sozialdemokratischen Heerbannes zeigte und die Arbeitslöhne
und Lebenshaltung der dentschen Arbeiter mit der Hochflut des wirtschaftlichen Aus-
schwunges rasch stiegen, klagte nur die Landwirtschaft über diese „liberale“ Gesetzgebung,
insbesondere über das Freizügigkeitsgesetz, welches die ländlichen Arbeiter zu Tausen-
den in die großen Städte lockte. Aber dieselbe Hochflut der Unternehmungslust offen-
barte die Schattenseiten einer fast schrankenlosen Koalitionsfreiheit auch den industriellen
Kreisen an einer Reihe ebenso frivoler als erfolgreicher Arbeitseinslellungen von größter
Ansdehnung und machte jedem Volksfreunde zur Gewißheit, daß die deutsche Ge-
werbeordnung gegen die übergroße Ausntzung der Arbeit von Kindern, jugend-
lichen Personen und Frauen und für die Sonntagsruhe aller in Industrie, Gewerbe
und Handel beschäftigten Personen nur ungenügende Vorschriften erlassen habe. Noch
weit unmittelbarer, dringender und furchtbarer schrie jedoch die soziale Not miu Ab-
hilfe, als nach den Verheerungen des Krachs das bleiche Gespenst des Hungers und
Elends in Tausenden von Arbeiterheimstätten sich niederließ und die Sozialdemokratie,
welche zuvor die Arbeiter in die frivolen Streiks gehetzt hatte, uun für alles Arbeiter-
elend die bürgerliche Gesellschaft und Gesetzgebung verantwortlich machte, in ihren
eigenen Reihen den Arbeitern allein Schutz und Erlösung verhieß und mit diesen
Lockungen bei den Neichstagswahlen von 187.4 fast 310,000 Stimmen und 9 Reichs-
tagssitze für ihre Partei gewann.
Der Reichstag hatte schon im Jahr 1871 durch das aus seiner eigenen Anregung
hervorgegangene, früher besprochene Haftpflichtgesetz einen weiteren wichtigen Schritt
in sozialpolitischer Richtung gethan. In den folgenden Jahren aber nahmen andere
dringende Aufgaben seine und der Neichsregierung Zeit, Kraft und Interessen vor-
wiegend in Anspruch: die Militärgesetzgebung, der Kulturkampf, die Rechtseinheit, die
wirtschaftliche Emwickelung und Gesetzgebung, welche in ihrer Gesamtrichtung dem Wohle
der arbeitenden Klassen ja auch nur förderlich sein konnte und wollte. Die engeren
sozialpolitischen Aufgaben wurden dabei jedoch bloß gestreist. So 1873, als infolge
Blum, Tas Teutsche Nelch zur Zeit Mlemarcke. 12