Das Unfallversicherungogesetz: Keine Privatversicherung, Unilageverfahren, Reservesonds. 419
aufgebracht und bereit gestellt werden mußte. Die Anhänger des Deckungsverfahrens
nannten das Umlageverfahren „ungerecht, ja unmoralisch“, weil es die Gegenwart ent-
laste zum Schaden der Zukunft. Der deutschfreisinnige Abgeordnete Dr. Max Hirsch
sprach am 19. Juni 1884 sogar die düsteren Worte aus: „Ich warne den Reichstag,
diesen verhängnisvollen Schritt zu thun und das zu thun, was sicherlich nicht zur Ehre
unseres deutschen Vaterlandes gereicht..“ Im Grunde aber war das eine Versahren
auf diesem neuen großartigen Versicherungsgebiete so gut ein Versuch wie das andere.
Und nur diejenigen, welche nicht an den Bestand des Gesetzes glauben wollten, konnten
beim Umlageverfahren von einer „Entlastung der Gegenwart zu gunsten der Zukunft“
sprechen. Denn wenn das Geset bestehen blieb, so nahm die Zukunft dieselben zahlungs-
pflichtigen Betriebsunternehmer beim Geldbeutel, welche nach der Berechnung der
Freunde des Deckungsverfahrens durch das Umlageverfahren in der Vergangenheit
sich zu sehr „entlastet“ hatten. Die Erfahrung seit 1884 hat auch die trüben Weis-
sagungen des Abgeordneten Hirsch nicht erfüllt, namentlich „die Ehre unferes deutschen
Vaterlandes“ durch die Wirksamkeit dieses Gesetzes keineswegs beeinträchtigt. Dagegen
haben die Nationalliberalen auch hier, indem sie dem Umlageversahren in ihrer Mehr-
heit zustimmten, auch zugleich das Mittel geschaffen, um diesem Verfahren bei den
steigenden Ansorderungen das zu gewähren, was ihm nach der Behauptung der Gegner
an „Solidität“ sehlte, indem sie den Antrag stellten und durchfetzten: „Die Berufs-
genossenschaften haben einen Neservefonds anzusammeln“, über dessen Bildung,
Vermehrung und Verwendung der § 18 des Gesetzes genaue Bestimmungen trifft.
In dieser Fassung wurde das Unfallversicherungsgefetz im Reichstag bei
der Schlußabstimmung am 27. Juni 1884 mit allen Stimmen gegen die des Deutsch-
freisinns, der Volkspartei und Sozialdemokratie angenommen und als Gesetz vom
6. Juli 1884 im „Reichsanzeiger“ verkündet.
Die hier niedergelegten Grundsätze bewährten sich bei der Inkrafttretung des Ge-
setzes allenthalben so befriedigend, daß der gemeinsame Wunsch der Regierungen und des
Reichstags bald verwirklicht werden konnte: die Segnungen des Gesetzes auch anderen
Versicherungsklassen zuzuwenden. So bringen denn die folgenden Jahre namhafte
Erweiterungen der Versicherungsklassen. Schon ein Gesetz vom 28. Mai
1885 dehnt die Unsallversicherung auf die Transportgewerbe aus. Nach mehrmaligen
gesetzgeberischen Anläufen gelingt durch das Gesetz vom 5. Mai 18860 auch die Her-
einziehung der in land= und forstwirtschaftlichen Betrieben beschäftigten Personen in
den Kreis der Unsallversicherung. Ein Gesetz vom 15. März 1886 wendet den infolge
von Betriebsunfällen verunglückten Beamten und Personen des Soldatenstandes die-
selbe Fürsorge und Entschädigung zu. Durch zwei weitere Gesetze vom 11. und 13. Juli
1887 werden endlich auch die bei Vauten beschäftigten Personen, die Seeleute und
andere bei der Seeschisfahrt beteiligte Arbeiter und Beamte der Vorteile der Unfall-
versicherung teilhafüg.
Früher schon als das Unsallversicherungsgesetz, und bei weitem leichter als dieses,
war das Krankenversicherungsgesetz zu stande gekommen und damit die zweite
sozialpolitische Verheißung der Kaiserbotschaft vom 17. November 1881 in Erfüllung
27°7