Full text: Das Deutsche Reich zur Zeit Bismarcks.

34 I. 3. Erste Reichslagsverhandlungen und Reichsgesetzgebung (1871). 
und Ordnung, sondern auch als eine Bürgschaft nationaler (d. h. jefuitischer) Freiheit 
dastehe“. Die Herren verlangten nämlich für sich bloß die „Grundrechte“ der un- 
beschränktesten Meinungsfreiheit in jeder Form und gaben dafür die bernhigende Zu- 
sicherung, daß die Zenjur nicht eingeführt werden dürfe; sie verlangten eine ebenso 
unbeschränkte Versammlungsfreiheit, außer unter freiem Himmel; serner die umm- 
schränkte Freiheit der Vereinigung zu Geiellschaften, insbesondere zu Neligionsgesell- 
schaften; endlich das Recht, daß „die römisch-katholische Kirche ihre Angelegenheiten 
selbständig verwalte“. 
Aus der dreitägigen Debatte verdienen nur wenige Reden Erwähnung. In 
erster Linie die mächtige Jungfernrede des Historikers und, bis 1867, glühenden 
Versechters des deutschen Einheitsslaates unter preußischer Leitung, Heinrich von 
Treitschkes. Die Rede riß das ganze Haus, mit Ansnahme der Ultramontanen, zu 
stürmischem Beifall hin. Besonders lebhaft wurden die Worte bejubelt: 
„Der Antrag (des Zentrums) gemahnt allzusehr an die Vorgänge des Jahres 1818. Man 
wollie damals den Jahrhunderte allen Gegensatz zwischen Staat und Kirche durch vier Zeilen 
ausgleichen, heute wiederholt man diesen fruchtlosen Versuch. Was die Herren wollen, ist eine 
unvollsiändige Anslese aus der preußischen Verfassung; mehr noch bot die Frankfurter Versas 
sung. Wo ist der Artikel aus der preußischen Verfassung: „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist 
frei? Wo ist der Satz, der die Zivilehe zuläßt? Die eine große posilive Wahrheil, welche die 
Herren im Jahre des Heils 1871 aufstellen, islt der geistreiche Satz, daß die Zensur in Deulsch- 
land nicht mehr eingeführt werden soll. Der Kern des Ankrags ist, daß die katholische Kirche 
ihre Angelegenheilen selbst verwallet. Ich sehe keine Gefahr in der Freiheil der katholischen Kirche 
in Prenszen, wohl aber in der Unsicherheit des slaalskirchlichen Rechles, das in diesem Staate 
herrscht. Die bestriktenen Verhältnisse, die es während der lep#ten 20 Jahre herbeigeführt hat, 
will ich nicht auf das übrige Deutschland übertragen. Wenn die kalholische Kirche ihre Angelegen 
heilen felbst ordnet, so dielet dies Recht jedem Bischof in einem kleinen Stlaate mil katholischer 
Bevölkerung eine mächlige Handhabe zur Opposilion gegen die Regierung.“ 
Der ischof Ketteler hatte vielleicht alle Ursache, sich durch die letzte Bemerkung 
Treitschkes persönlich getrossen zu fühlen; mindestens verriet die Leidenschafllichkeit 
seiner Antwort, daß der Hieb gesessen hatte. 
„Der Abgeordnele von Treitschke“, sagle er, „hal Sie gebelen, für leine Gesene zu stim 
men, welche die Bischöfe zu Nebellen gegen die Landesgesetze machen. Ich will Ihnen ein Mitlel 
angeben, diese Gesahr zu vermeiden; slimmen Sie nie für Gesetze, welche Rebellen gegen Golles 
Gesetze sind, dann werden wir nie gegen Landesgesetze rebellieren!“ 
Diesen Standpunkt, welcher jedem Bischof und jedem katholischen Priester das 
„Grundrecht der Rebellion“ gegen Staatsgesetze verlieh, unter dem Vorwand, daß 
diese „gegen Gottes Gesetze“ verstießen, geißelte der freikonservative Graf Renard 
unter lebhaftem Beifall durch die Worte: „Herr von Ketteler hat uns nicht ausgeklärt 
über den Widerspruch, der darin liegt, daß die Partei, welche soeben die fast zwei- 
tausendjährige bischöfliche Verfassung der katholischen Kirche zu gunsten einer abso- 
luten Gewalt umgestürzt hat, hier liberale Forderungen aufstelll.“ Und noch tressender 
erhob Dr. Löwe-Calbe (Bochum), der klarste realpolitische Kopf der Fortschrillepartei, die 
Frage: „Was ist denn für den Abgeordneten von Ketteler.Gottesgesetz in dem Angen-
	        
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