Das letzte Regierungsjahr Kaiser Wilhelmis J. Reform der Branntweinstener. 531
Wilhelms I.
heimgang Kniser
11. Dns letzte Regierungsjahr Kaiser
Die Krankheit des Kronprinzen.
Vilhelms.
Reich an erhebenden Freuden, überreich aber auch an Kummer, Schmerz und
Leid sollte dem Kaiser Wilhelm sein letztes Regierungsjahr dahinfließen.
Auch das letzte Lebensjahr, das dem Kaiser beschieden war, hatte unter seinem
milden Zepter dem Deutschen Reiche Früchte gebracht, an denen er herzliche Freude
hatte. Dahin gehörte die im vorigen Abschnitte dargestellte patriotische Erhebung
Deutschlands seit den Reichstagswahlen vom 21. Februar 1887; aber auch eine
Reihe anderer, noch unerwähnter Beratungen und Beschlüsse des „Kartellreichstags“.
Zunächst nämlich die Annahme der 1887 vorgelegten Gesetzentwürfe betreffs der Be-
steuerung des Branntweins und Zuckers, denn dadurch wurden dem Reiche endlich
bedeutende eigene Einnahmen zugeführt und die seit Jahren vergeblich erstrebte Steuer-
reform des Fürsten Bismarck zum Teil verwirklicht. Zugleich aber erfüllten diese Ge-
setze hohe wirtschaftliche, sozialpolitische und sittliche Aufgaben.
Die Reform der Branntweinsteuer war im Jahre 1886 von der Reichsregie-
rung auf dem Gebiete des Branntweinmonopols versucht, der Entwurf aber vom
Reichstag, auch von den regierungsfreundlichen Parteien, sast einstimmig abgelehnt
worden (mit 181 gegen 3 Stimmen bei 37 Stimmenthaltungen). Schon im Bundes-
rate war eine größere Minderheit gegen den Entwurf gewesen, und die süddeutschen
Staaten hatten sich dabei vermöge ihrer Reservatrechte gar nicht beteiligt. Die regie-
rungsfreundlichen Parteien sahen sich außer stande, das Branntweinmonopol zu geneh-
migen, weil zunächst die Ertrags= und Ausgabeberechnung des Entwurfes vielfach an-
fechtbar erschien, vor allem aber aus politischen und volkswirtschaftlichen Bedenken.
Deun das geplante Gesetz brachte die Brenner und 70,000 auf Kündigung angestellte
Verkäuser in eine von der jeweiligen Regierung durchaus abhängige Lage. Zur Wider-
legung dieser Befürchtung wird neuerdings darauf verwiesen, daß auch in der freien
Schweiz das Branntweinmonopol eingesührt worden sei. Aber die republikanische
Verfassung der Schweiz, d. h. das jedem Schweizerbürger verliehene Recht, sich gleich-
sam selbst an der Negierung zu beteiligen und Ubergrisse abzustellen, die Wahl aller
Beamten durch das Volk und nur auf kurze Zeit, steuert dort der Gefahr, daß Brenner
und Verkaufsbeamte jemals in eine ihre bürgerliche und politische Selbständigkeit
beeinträchligende Abhängigkeit von der Bundesregierung gelangen könnten. Ein
weiteres schweres Bedenken gegen das Branntweinmonopol bestand in dem lästigen
Kontroll= und Spioniersystem, das sich bis in die privaten und häuslichen Verhält-
nisse hinein erstrecken mußte. Das vielleicht größte Bedenken aber war volkswirtschaft-
licher Art: in der ohnehin arbeitsarmen Zeit wurden nämlich von 300,000 Personen,
die sich bisher mit der Hersiellung und dem Verkauf des Branntweins beschästigten,
wie Fabrikanten, Destillateure, Groß= und Kleinhändler 2c., nicht weniger als 200,000
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