76 I, 5. Der Kulimrlampf im Jahre 1872.
Der Vundesrat hielt die Sessson schon für zu weit vorgeschritten, um die Ordens-
frage im allgemeinen zu regeln, und legte dem Reichstag daher am 11. Juni mur
ein „provisorisches Notgesetz gegen die Jesuiten“ vor. So bezeichnete es Präsident
Dr. Friedberg im Neichstag am 14. Juni. Dieser Entwurf versügte nur: „Den Mit-
gliedern des Ordens der Gesellschaft Jesfu oder einer mit diesem Orden verwandten
Kongregation kann, auch wenn sie das deutsche Indigenat besitzen, an jedem Orte
des Bundesgebietes der Aufenthalt von der Landespolizeibehörde untersagt werden.“
Gegen das Zentrum, welches diese Angelegenheit gern aus die lange Vank neuer Kom-
missionsberatungen geschoben hätte, beschloß der Reichstag am 14. Juni zunächst, den
Eutwurf sofort im Plenum zu beraten. Aber die Redner der großen Mehrheit zeigten
sich von dem polizeilichen Standpunkt des Eutwurfes und von dessen Milde und
Unbestimmtheit wenig erbaut. Selbst Wagener erklärte: „Ich für meinen Teil wäre
in der Sache gern weiter gegangen.- Eine anderweite Maßregel ist aber jetzt nicht
möglich. Das Gesetz ist der teilweise Belagerungszustand. Das Neich ist im Kriegs-
zustande mit Nom.“ Die große Mehrheit des Hauses war jedoch, im Gegensatz
zu Wagener, der Meinung, daß „eine anderweite Maßregel“ auch jetzt schon wohl
möglich sei. Deshalb traten noch am Abend des 14. Juni Vertrauensmänner aller
Parteien, mit Ausnahme des Zentrums, zu einer freien Kommission zusammen,
welche sich am 15. Juni über denjenigen Gesetzentwurf einigte, der im Reichstag und
Bundesrat Annahme fand und zum deutschen Reichsgesetz geworden ist. Er lautet:
„§ 1. Der Orden der Gesellschoft Jesu und die ihm verwandlen und ordensähnlichen Kon-
gregalionen sind vom Gebiete des Deutschen Reichs ousgeschlossen. Die Errichtung von Nieder
lassungen derselben ist untersagt. Die zur Zeil bestehenden Niederlassungen sind binnen einer
vom Vundesrat zu bestimmenden Frist, welche sechs Monote nicht übersteigen darf, ouszulösen.
— 82. Die Angehörigen des Ordens der Gesellschoft Jesu oder der ihm verwandten Orden oder
ordensähnlichen Kongregalionen lönnen, wenn sie Ausländer sind, aus dem Bundesgebict ous-
gewiesen werden; wenn sie Inländer sind, kann ihnen der Ausenthalt in befummten Bezirken
oder Orten versagt oder angewiesen werden. — § 3. Die zur Ausführung und zur Sicherstel.
lung des Vollzugs dieses Gesetzes ersorderlichen Anordnungen werden vom Bundesrat erlassen.“
Dieser Antrag wurde am 17. Juni in zweiter Lesung nach lebhaster Debatte
mit 183 gegen 101 Stimmen angenommen. Die Minderheit bestand aus dem Zen-
trum, dem linken Flügel der Fortschrittspartei und einzelnen „Liberalen“ und Kon-
servativen. Aus der Debatte ist die bemerkenswerte Schlußrede des Berichterstatlers.
Dr. Gneist hervorzuheben. Namentlich sagte er unter stürmischer Zustimmung:
„Das Recht der Vereinigung (aller Preusten), auf welches man sich zu gunsien des Jcsuiten
ordens beruft, ist ein Mißbrauch des Namens Freiheil, gegen den ich prokestieren muß. Es
handelt sich bei der Freiheit des Jesuitenordens um etwas ganz anderes: um eine feste hierar
chische Kostenordnung, die das Gegenteil von freier Vereinigung ist; um eine Thärigkeit nach den
Besehlen eines auswärtigen Oberen und den Gehorsam gegen diese Befehle . . Bringen Sie
uns nur nicht die Worte Freiheit und Recht, m die Herrschaft der Jesuiten in Deulichtand einzu-
führenl Hondelt es sich imn die Frage der Freiheit und des Rechts, so ist das die Seile, auf der
wic stehen!“