50 Unsere Sozialdemokratie
Wenn eine Lehre die Menschen verführt, so
geschieht es weniger durch den Trugschluß, welchen sie ihnen
darbietet, als durch die Versprechungen, welche sie
ihnen macht; sie hat mehr Handhabe an ihrem Gefühl, als
an ihrem Verstand; denn wenn auch das Herz manchmal der
Narr des Verstandes ist, so ist doch der Verstand viel häufiger
der Narr des Herzens. Ein System gefällt uns keines-
wegs deshalb, weil wir es für wahr halten, son-
dern wir halten es für wahr, weil es uns gefällt.
Und der politische oder religiöse Fanatismus hat, welches auch
der theologische oder philosophische Kanal sei, in dem er fließt,
immer als Hauptquelle ein gieriges Bedürfnis, eine geheime
Leidenschaft, eine Häufung tiefer und mächtiger Wünsche, welchen
die Theorie, die Lehre, einen Ausweg eröffnet. Im Jakobiner
wie im Puritaner fließt eine Quelle dieser Art.
Beim Puritaner wird sie ernährt von dem beunruhigten
Gewissen, welches, unter der Vorstellung der vollkommenen Ge-
rechtigkeit, rigoristisch wird und die Gebote vervielfältigt, welche
es sich von Gott gegeben glaubt; wenn man es zwingt, darin
zu wenig zu thun, so empört es sich, und um diese Gebote
Anderen aufzuerlegen, ist es gebieterisch bis zum Despotismus.
Aber sein erstes Werk, ganz im Inneren, ist die überwältigung
des Ich durch das Ich selbst, und ehe es politisch wirkt, ist es
lediglich im sittlichen Gebiete thätig.
Bei dem Jakobiner ist im Gegenteil die erste Einwirkung
nicht sittlicher, sondern politischer Natur; nicht seine Pflich-
ten, sondern seine Rechte übertreibt er, und seine
Lehre, anstatt ein Sporn für das Gewissen zu sein,
ist vielmehr eine Schmeichelei seines Stolzes.) So
*) Camille Desmoulins, das enkant terrible der Revolution, ge-
steht diese Wahrheit wie alle andern. „Unfre Revolution“, sagt
er, „rein politisch, hat ihre Wurzeln in der Selbstsucht und
in der Eigenliebe eines Jeden, aus deren Vereinigung sich das
.allgemeine (7) Interesse zusammensetzt.“