Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwölfter Jahrgang. 1896. (37)

316 NMebersicht der politisszen Entwickelung des Jahres 1896. 
Jee- ihr ursprünglich nahestehenden Antisemiten. Im Jahrgang 1893 
Reform ist ausgeführt, wie die Konservativen sich in der Hoffnung, die 
partei. antisemitische Bewegung für sich ausnutzen zu können, täuschten, 
da die Antisemiten eine eigene Partei bildeten und in ihrer Agitation 
ebensowenig konservative Wahlkreise wie freisinnige oder sozial- 
demokratische verschonten. Bei mehreren Nachwahlen trat diese 
Tendenz der zur deutsch-sozialen Reformpartei gewordenen Anti- 
semiten noch stärker hervor und erweiterte die Kluft, zumal sich die 
Antisemiten als einseitige Vertreter des Mittelstandes oft im Gegen- 
satze zu den Interessen des Großgrundbesitzes befanden. Am Schluß 
des Jahres kam es aus diesen Gründen zu einer offenen Kriegs- 
erklärung zwischen den beiden Parteien (S. 150). 
Außerordentlich lebhaft war die Bewegung in den Reihen 
der Politiker, die in der beschleunigten Weiterführung der Sozial- 
reform die dringendste Aufgabe der Gesetzgebung erkennen. Werfen 
wir kurz einen Rückblick auf die Geschichte dieser Anschauung. Die zu 
Ende der siebziger und Anf. der achtziger Jahre entstandene „Berliner 
Bewegung“ hatte ihren Ursprung in verschiedenartigen Gedanken. 
Einerseits richtete sie sich von deutsch-nationalen Empfindungen aus- 
gehend gegen das Judentum und den mit ihm verbündeten Liberalis- 
mus, andererseits vertrat sie den kleinen Mittelstand gegen das 
Großkapital, und endlich trat sie durch Vermittlung ihrer Führer, 
der konservativen Abgeordneten Professor Wagner und Stöcker in 
Verbindung mit der konservativen Partei, dem Großgrundbesitz und 
der protestantischen Orthodoxie. Aus allen Kreisen fielen dieser 
Richtung Anhänger zu, die sich in der Bezeichnung „Christlich- 
Soziale“ einen gemeinsamen Namen gaben, aber gerade die Ver- 
schiedenartigkeit der Interessen und Tendenzen, die dort zusammen- 
trafen — Handwerker, Groß= und Kleingrundbesitz, religiöse 
Orthodoxie und Rassenantisemitismus ohne ausgeprägte kirchliche 
Stellung — verhinderte die Bildung eines positiven Programmes. 
So vermochten die Christlich-Sozialen nie eine eigene Partei zu 
bilden, sondern blieben bis vor kurzem ein Appendix der Kon- 
servativen. Von diesen unterschieden sie sich allerdings durch stärkere 
Vertretung der Interessen der ärmeren Volksklassen; die von ihnen 
gegründete Zeitung „Das Volk“ geriet darüber mehrfach, nament-
	        
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