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nicht ausbleiben. Trotzdem blieb Wittenberg noch immer
die bedentendste unter den protestantischen Universitäten,
seine theologische Facultät zumal wies unter allen die stärkste
Frequenz auf; die sächsischen Theologen übten sogar oder
erstrebten wenigstens, gestützt auf das Directorium ihres
Kurfürsten, eine Art oberrichterlicher Gewalt in kirchlichen
Streitfragen, wie z. B. 1623 und 1624 in dem Streite
zwischen den Tübingern und Gießenern 1) und Hoß v. Hoön-
egg hielt von 1621 bis 1628 alljährlich einen theologischen
Convent zur Beurtheilung und Entscheidung aller theologischen
Zeitfragen in möglichst offizieller Form ab. Obgleich Melanch-
thons Auctorität durch Leonhard Hutters, des Professor con-
troversinrum, Compendium (1619) verdrängt wurde, so erhielt
sich doch während der ersten Jahrzehnte des siebzehnten Jahr-
hunderts bei aller Anhänglichkeit an die durch die Concordien-
formel gegründete Lehrnorm und bei aller Schärfe gegen den
Calvinismus eine mildere Auffassung, in Wittenberg haupt-
sächlich durch Polykarp Leyser und Balth. Meißner, in Leipzig
durch Höpfner vertreten; noch durchleuchtete und durchwärmte
etwas von dem Geiste der großen Reformatoren die sächsische
Landeslirche, bis mit dem von Abr. Calov in Wittenberg gegen
den Helmstädter Calixt entzündeten Streite der Hader der pro-
testantischen Theologen in seiner ganzen Bitterkeit ausbrach 2).
Die Theologie schlug in der Literatur wie auf der Kanzel
immer entschiedener eine polemische Richtung ein, die auch in
den 1624 und 16/40 zu Leipzig gestifteten Predigervereinen
sehr gepflegt wurde, und die Philosophie, wieder ganz in die
Fesseln der scholastischen Kategorien geschlagen und durch ihre
Abhängigkeit von der Theologie der eigenen freien Bewegung
beraubt, förderte das liberwuchern einer spitzfindigen und ge-
müthlosen Dogmatik, deren unerträglicher Druck, verbunden
1) über ihren Versuch, denselben durch eine Art Nachtrag zur
Concordie zu entschciden, siche Franke in Weißes Museum II, 2.
S. 177 ff.
2) Tholuck, Der Geist der lutherischen Theologen Wittenbergs im
Verlauf des 17. Jahrh. (1852), S. 4 ff.