296 Inneres 1656—1697.
Je tiefer die protestantische Orthodoxie sich hinter die
Zeheimnißvollen Schranken theologischer Gelehrsamkeit zurück-
gezogen hatte, desto fremder war sie dem kirchlichen Leben,
desto umvirksamer für die Erbaunnug der Gemeinde geworden.
Die Predigten strotzten von trostloser Gelehrsamkeit und Po-
lemik; der ältere J. B. Carpzov hatte hundert Predigtmethoden
erfunden, die später Val. Löscher auf fünfundzwanzig reducirte,
und vorzugsweise waren die leipziger Predigercollegien die
Stätte, wo diese einschnürenden Kunstregeln aufs emsigste ge-
pflegt wurden. Aber das Wort Gottes blieb unausgelegt, die
Herzen der Hörer kalt. Und doch lechzte die Sehnsucht gerade
der frömmsten Gemüther nach erquickenderer Speise. In diesem
Sinne hatte Herzog Erust der Fromme von Gotha die wei-
marische Bibelausgabe und den neuen Katechismus veranlaßt
und, unterstützt durch den trefflichen Veit Ludwig v. Secken-
dorf, der später auch einige Jahre in zeizer Diensten stand und
1692 zu Halle starb, in seinem Bereiche ächt christliche Frömmig-
keit zu wecken, Kirchen= und Schulwesen zu verbessern gesucht.
Aber mit einem ungleich tiefer und weiter gehenden Erfolge
griff hier der wahrhaft fromme Philipp Jacob Spener
ein, geb. 1635 zu Nappoltstein im Elsaß, seit 1666 Pfarrer
und Senior des Ministeriums zu Framkfurt a.M. 1). Der
nnfruchtbaren Systemgelehrsamkeit stellte er eine fruchtbringende
Erklärung der heiligen Schrift, dem starren Festhalten an
äußerlichen Satzungen ein Leben im Glauben, den man aus
seinen Werken erkemen müsse, entgegen, eiferte gegen Werk-
heiligkeit und Sittenroheit und gedachte, zu bescheiden, um eine
Ernenerung der ganzen Kirche zu erstreben, wenigstens eine
ccelesiola in ccclesian zu zimmern. Seine collegin Pie-
tatis, erbauende Privatversammlungen, die er seit 1670
in Frankfurt hielt, fanden bald auswärts Nachahmung, und
seine Pia desideria, in denen er 1675 bescheiden und un-
parteiisch auf einige der wichtigsten Mängel der protestantischen
1) Hoßbach, Phil. Jac. Spener und seine Zeit, 2 Bde. (1828,
2. Aufl. von Schwerder 1857).