82 Verfassungsgeschichte. 9
6 Jahre durch alle Bürger, abzuwehren 1). Die Grundzüge: Souveränität des Volkes, gleiche Be-
rechtigung aller Bürger, waren freilich durch die Zeitumstände gegeben. Nachdem im Herbst
1848 der Entwurf fertiggestellt war, blieb dem Senat keine Wahl, als zu genehmigen. Am
21. März 1849 wurde diese erste Verfassung des bremischen Staates publi-
ziert; mit 8 Nebengesetzen trat sie am 18. April 1849 in Kraft (Brem. Gbl. 1849, S. 37 f., 65 f.).
Diese Verfassung von 1849 änderte den früheren Rechtszustand von Grund aus; an Stelle
des alten aristokratischen Patrimonialstaates setzte sie einen Verfassungs= und Rechtsstaat auf
Grundlage der Volkssouveränität. Herrscher im Staat war die souveräne Gesamtheit, die aller-
dings in der Regel durch ihre Organe, Senat und Bürgerschaft, regierte, bei wichtigen Entschei-
dungen aber selbst den Ausschlag gab. Bei der Wahl der Senatsmitglieder hatte die Bürgerschaft
den überwiegenden Einfluß. Die letztere bestand aus 300 von allen Bürgern auf 4 Jahre ge-
wählten Mitgliedern. Konnten Senat und Bürgerschaft sich über die Zweckmäßigkeit einer Maß-
regel nicht einigen, so entschied die Gesamtheit der Bürger durch einen Ausschuß von 13 Mitglie-
dern; ebenso sollte bei Meinungsverschiedenheiten über Verfassungsänderungen die Gesamtheit
300 Bürger zur Entscheidung wählen. Der Senat war also auf ein suspensives Veto beschränkt
und bildete trotz seiner Lebenslänglichkeit kein wirksames Gegengewicht gegen wechselnde Ein-
flüsse von unten.
Ungefähr 3 Jahre stand die Verfassung von 1849 in Geltung. Inzwischen war im übrigen
Deutschland die Reaktion eingetreten; der Bundestag lebte wieder auf und bot dem Senat eine
Stütze gegen die Bürgerschaft, in der immer mehr die radikalen Elemente die Oberhand gewan-
nen. Bereits im Frühjahr 1851 beantragte der Senat allerdings ohne Erfolg eine Revision der
Verfassung. Nachdem die Bundesversammlung des Deutschen Bundes durch Beschluß vom
23. August 1851 die Regierungen aufgefordert hatte, die seit 1848 getroffenen Einrichtungen einer
Prüfung dahin zu unterwerfen, ob sie mit den Grundgesetzen des Bundes im Einklang ständen,
teilte der Senat am 27. September 1851 der Bürgerschaft mit #), er habe diese Prüfung vorge-
nommen; darnach sei zweierlei notwendig: „Unbedingte Entfernung des mit den Fundamental-
sätzen des Bundesrechts im graden Gegensatz stehenden Prinzips der sog. Volkssouveränität und
eine angemessene Kräftigung der Regierungsgewalt.“ Demgemäß legte er der Bürgerschaft die
fertigen Entwürfe eines Wahlgesetzes für den Senat und die Bürgerschaft vor und verlangte die
sofortige Neuwahl einer Bürgerschaft auf Grund dieser Entwürfe zur weiteren Verfassungs-
revision; der gewöhnliche Weg der Verfassungsänderung sei nicht gegeben 2). Die Bürgerschaft.
erkannte in ihrer Antwort ") die höhere Gewalt des Bundes an, mißbilligte jedoch die Vorschläge
des Senats und wollte sich zu einer Revision der Verfassung nur auf verfassungsmäßigem Wege
verstehen. Der Senat erwiderte, er werde die Bundesversammlung von dem Erfolg seiner Be-
mühungen in Kenntnis setzen. Inzwischen hatte der infolge des erwähnten Bundesbeschlusses
eingesetzte Ausschuß des Bundestages vom Senat einen Bericht über die Verhältnisse in Bremen
eingefordert; er gab dem Senat zunächst anheim, nochmals einen Versuch zur Verständigung zu
unternehmen, der aber scheiterte, da die Bürgerschaft auf die verlangte vertrauliche Beratung und
Beschlußfassung nicht eingehen wollte. Nunmehr beschloß auf ausführlichen Bericht ihres Aus-
schusses die Bundesversammlung am 6. März 1852 die Intervention in der bremischen Ver-
fassungsangelegenheit und ersuchte die Königl. Hannoversche Regierung, zur Unterstützung des
Senats einen höheren Staatsbeamten nach Bremen zu senden, ihm auch erforderlichenfalls eine
angemessene Truppenmacht zur Verfügung zu stellen "6). Letzteres war nicht mehr notwendig. Nach-
1) Eine Zusammenstellung der radikalen Forderungen (Wahl der Richter auf 5 Jahre, Un-
entgeltlichkeit der Rechtspflege, Schwurgerichtsurteile mit Gründen usw.) in „Schema einer
Verfassung für den Brem. Freistaat“ von H. W. A. Kotzenberg und C. F. Feldmann.
Die Protokolle der Verfassungsdeputation sind gedruckt in 2 Bdn.; 1848 und 1849.
2) Brem. Verh. 1851, S. 377.
3) „Gegenwärtig handelt es sich nicht um Abänderungen, welche dem freien Ermessen von
Senat und Bürgerschaft überlassen sind — ihr Eintritt ist Folge höherer Notwendigkeit — son-
dern einfach um Feststellung derjenigen Bestimmungen, welche an Stelle dessen zu treten ha-
ben, was kraft des Bundesrechts keine Wirksamkeit mehr hat.“ Dieses Vorgehen des Senats,
den verfassungsmäßigen Weg zu einer Aenderung der Verfassung von vorneherein auszuschlie-
ßen, war rechtlich nicht haltbar; faktisch konnte der Senat kaum anders handeln, da die radikale
Bürgerschaft einer Revision, wie sie nach dem Beschluß des Bundestags notwendig war, nicht zu-
gestimmt hätte. Auch Sievers, Brem. Staatsrecht § 2, S. 70 Anm. 1 sieht die Rechtskon-
tinuität bei dieser Entwicklung als nicht gewahrt an.
4) Brem. Verh. 1851, S. 397.
5) Der Bundesbeschluß ist abgedruckt im Brem. GBl. 1852, S. 5 f.